00 "*~ -y. g CD g ^^[ Q ac = 00 -: CD ' Os^^SZ - Q ; jg == | CO I f*»- I 00 Pfeiffer, Adalbert Die Ethik des Pete] Gassendi Die Ethik des Peter Gassendi dargestellt und nach ihrer Abhängigkeit von dem Epikureismus untersucht. Inaugural- Dissertation der hohen philosophischen Fakultät der Friedrich -Alexanders -Universität zu Erlangen zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegt von Adalbert Pfeiffer aus Heringen a. d. Werra. Tag der mündlichen Prüfung: 22. Juli 1908. Borna- Leipzig Buchdruckerei Robert Noske 1908. 48 7w7 - y % 1972 !0*f Herrn Oberpfarrer Eduard Gerhold Saalburg. Inhaltsverzeichnis. Seite "Vorbemerkung 1 I. Das philosophische System Gassendis und die Stellung der Ethik in demselben 2 II. Die Ethik Gassendis 6 Erster Abschnitt: Die Lehre vom Glück 7 A. Vorbedingungen zu einem glücklichen Leben ... 7 B. Das Wesen des Glücks 11 C. Das summum bonum des Weisen 18 Zweiter Abschnitt: Die Lehre von den Tugenden .... 23 A. Prudentia 23 B. Fortitudo 28 C. Temperantia 32 D. Iustitia 34 E. Annexae iustitiae virtutes 37 Dritter Abschnitt: Über Willensfreiheit. Zufall, Schicksal, Weissagung 41 libertas 41 fortuna 42 fatum 42 divinatio 43 III. Das Verhältnis der Ethik Gassendis zu der epikureischen . . 44 A. Gassendis Interesse für Epikureismus 44 B. Wesen und Zweck der Philosophie 46 C. Das höchste Gut 47 D. Die Lust und die Tugend 52 E. Das Idealbild des Weisen 54 F. Die Willensfreiheit 57 D7. Gassendis Verhältnis zur katholischen Kirche 57 Digitized by the Internet Archive in 2011 with funding from University of Toronto http://www.archive.org/details/dieethikdespeterOOpfei Literaturverzeichnis. Zeller, Die Philosophie der Griechen III. 1. 3. Aufl. Leipzig 1880. Ueberweg-Heinze, Grundriß der Geschichte der Philosophie I, III. 10. Aufl. Berlin 1907. ' Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie. 6. Aufl. Leipzig 1908. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus I. Leipzig, Recl. Ziegler, Geschichte der Ethik I. Bonn 1881. Petri Gassendi opera. Lugduni 1658. Güttier, Gassend oder Gassendi? A. f. Gesch. d. Ph. X, 1897, S. 239—243. Usener, Epicurea, Lipsiae 1887. Gomperz, Epikurische Spruchsammlung. Wien. Stud. X, 1888. S. 175—210 (entdeckt und mitgeteilt von Dr. K. Wotke). Usener, Epikurische Spruchsammlung 2. Wien. Stud. XII, 1890, S. 1—4. Natorp, Ethika des Demokritos. Marburg 1893 (S. 127—142 Epikuros). L. Büchner, Ein antiker Freidenker, deutsche Revue XIV, 1889. Diebitsch, Die Sittenlehre des Lukrez. Ostrowo 1886. Hempel, Die Ethik des Lukrez. Salzwedel 1872. Batteux, Die Moral des Epikureismus, a. d. Franz. übers. Halberstadt 1792. Cicero, de fin bon. et mal. I u. II (übers, v. Dr. Kühner). T. Lucretius Carus, de rerum natura (herausgeg. v. Knebel, Leipzig 1821). Vorbemerkung. Charakteristisch für die Übergangszeit von der Philosophie des Mittelalters zu der der Neuzeit ist der Versuch der Wieder- belebung antiker philosophischer Systeme. „Die Philosophie lenkt in jenen großen Kulturstrom der Renaissance und des Humanismus ein, der sich von Italien her über die ganze ge- bildete Welt ergoß." Nachdem zunächst die platonische und neuplatonische Doktrin ihre Auferstehung gefeiert hatten, wurden später auch andere Philosophien des Altertums erneuert, z. B. der Stoizismus besonders durch Lipsius, der Skeptizismus durch Montaigne, Charron u. a.; ungleich höheren Wert als die Erneuerung irgend eines andern antiken Systems hat aber in der Geschichte der Wissenschaft Gassendis 1 ) Erneuerung des Epikureismus wegen der Anknüpfung der neueren Naturforschung an den- selben. 2 ) Schon vor ihm waren Gelehrte auf Epikur zurück- gegangen. Laurentius Valla vertritt in seinem Dialoge de volup- tate (1431), später de summo bono betitelt, und in der Schrift de libero arbitrio (1493 gedruckt) ziemlich unverblümt die epi- kureische Ansicht, daß die Lust das wahre und sogar einzige Gut sei, und läßt die sinnliche Natur zu ihrem Rechte kommen. 3 ) Anregend auf Gassendi hat eingewirkt Magnenus, der in der Physik auf die Atomistik des Demokrit zurückging. 4 ) Gassendi hat seine eigene Lehre niedergelegt in dem syntagma philoso- phicum Bd. 1 u. 2 seiner sechsbändigen Werke. 5 ) Während seine Physik und Logik in neuerer Zeit bereits Bearbeiter fanden, 6 ) *) Gassendi besser als Gassend oder Gassendv; C. Güttier, Gassendi oder Gassend? A. f. G. d. Ph. X 1897 S. 239—243. 2 ) Überweg -Heinze, Gesch. d. Philos. III S. 106 10. Aufl., Berlin 1907. 8 ) Überweg -Heinze a. a. 0. S. 18. 4 ) Magnenus, Democritus reviviscens s. de atomis, nebst einem Anh. de vita et philosophia Democriti, Pavia 1646. 5 ) Petri Gassendi opera, Lugduni 1658. 6 ) Außer anderm vgl. Lange. Gesch. d. Mat. I S. 302—316 (Reclam); K. Laßwitz, Über Gassendis Atomistik, A. f. G. d. Ph. II S. 459—470; Kiefl, G.s Erkenntnistheorie u. s. Stellung zum Mater., Fulda 1893. — 2 — ist seine Ethik, soviel ich sehe, noch nicht nach ihrer Abhängig- keit von Epikur dargestellt worden. Folgender Versuch will diesen Teil untersuchen nach seiner Stellung im philosophischen System, seinen Inhalt wiedergeben, in seiner Abhängigkeit von Epikur nachweisen und endlich etwaige Abweichungen von ihm kurz beleuchten. I. Das philosophische System Gassendis und die Stellung der Ethik in demselben. 1. Das Wesen der Philosophie. In dem liber prooemialis zum syntagma philosophicum definiert Gassendi (I S. I) 1 ) die Philosophie als die Liebe zur Weisheit, die Beschäftigung mit ihr und ihre Betätigung im praktischen Leben. Die Weisheit besteht darin, daß der Mensch richtig über die Dinge urteilt und richtig im Leben handelt. Das ist aber nur möglich, wenn er sich daran gewöhnt, die Wahrheit (veritas) zu lieben, zu erforschen und zu pflegen, andererseits dem sittlich Guten (honestas) nachzutrachten und es über alles zu stellen; je näher wir der veritas kommen, um so richtiger urteilen wir über die Dinge, und je mehr wir von der honestas erfüllt sind, um so korrekter handeln wir im Leben. Erst die Vereinigung beider Ideale ergibt die vollendete Weisheit oder Tugend, d. i. die höchste Vollkommenheit der Seele, in der ihre beiden Funktionen, der Intellekt oder Ver- stand und das Streben oder der Wille, harmonisch so zusammen- wirken, daß sich der Intellekt das Wahre, der Wille das sittlich Gute als unverrücktes Ziel setzt. Dies zu erreichen oder ihm möglichst nahezukommen, bedeutet für den Menschen die höchste Glückseligkeit, die er unter natürlichen Voraussetzungen erlangen kann. Denn im Besitze der Wahrheit und Tugend kann der Weise nie durch irrige Vorstellungen aus seiner Fassung gebracht werden, er genießt Seelenruhe, in der für ihn das höchste Glück liegt. Wenn man schließlich noch leibliche Ge- sundheit und Freisein von körperlichem Schmerz als einen Be- standteil der Glückseligkeit ansehen will, so hat der Weise im Besitz der Wahrheit und Tugend die Mittel, auch nach dieser Seite sein Dasein zu genießen. Die Gesamtausgabe der Werke Gassendis von 1658. - 3 — 2. Die Einteilung der Philosophie. Der doppelten Funktion der Seele, Intellekt und Willen, entsprechend scheinen sich zwei Teile der Philosophie zu er- geben; der eine hat zum Inhalt das Wahre, der andere das Gute; mit der veritas rerum befaßt sich die pars physica oder naturalis, mit der honestas morum die pars ethica oder moralis. Nun aber lehrt die Erfahrung, daß der Intellekt vom Wege der Wahrheit abirren und Falsches für wahr annehmen, ebenso der Wille sein Ziel aus den Augen verlieren und das Schlechte statt des Guten wählen kann. Dieser Gefahr beugt die Philo- sophie vor; mit der Aufgabe, dem Willen ein Wegweiser zum Guten zu sein, befaßt sich die Ethik, der andern Pflicht, den Intellekt auf die Bahn der Wahrheit zu weisen und dort zu halten, hat sich die Logik oder Kanonik zu unterziehen (I S. 31). Die Logik stellt die Regeln auf, durch die der Intellekt bei Betrachtung der Natur geleitet werden soll; selbstverständlich können solche Normen nur ganz allgemein gehalten sein, darum leisten sie dem Intellekt nicht nur bei Erforschung der Er- scheinungswelt, sondern bei jeder andern Geistestätigkeit ihre Dienste. In einem einleitenden Teil zur pars logica (I S. 91) gibt Gassendi eine Erklärung der für diesen Abschnitt in Be- tracht kommenden Bezeichnungen Logik, Dialektik, Kanonik. Die Physik ist der umfangreichste und vornehmste Teil der Philosophie. Schon ihr Name läßt auf den Umfang schließen. cpveiv bedeutet gignere und nasci zugleich; (pvoig, Natur, ist so- mit einmal das schöpferische Prinzip und daneben das Ding, welches entsteht; so umspannt der Begriff natura alles, was ein Entstehen verursacht und empfängt. Die Natur fällt dem- nach zusammen mit dem Weltall, der universitas rerum, einer- seits und der ihr immanenten schöpferischen Kraft, vis agendi, andererseits. Darum läßt sich die pars physica definieren als scientia naturae rerum contemplatrix, sofern wir durch sie ein- mal den Umfang der gesamten Welt kennen lernen, sodann auch jedes Einzelding speziell erforschen wollen mit Rücksicht auf seine Ursachen, Zwecke, Wirkungen, Eigentümlichkeiten u. a. m. (S. 125). Nicht nur die greifbare und sichtbare Welt, das corpus naturale, ist also Objekt dieser Untersuchungen, sondern das ens naturale überhaupt, alles schlechthin Seiende, Wirkende; denn auch die körperlosen entia, z. B. Gott, die Geisteskräfte und -tätigkeiten (intelligentiae), sind Gegenstand der Physiologie, da sie mit in der Reihe der natürlichen Ur- sachen stehen und selbst wieder Wirkungen ausüben. Contem- platrix nennt Gassendi diese Wissenschaft, weil sie sich mit — 4 — Betrachtung der Dinge und Erlangung der Weisheit begnügt und nicht wie die artes auf das Schaffen und Bilden ausgeht. Wenn wir nämlich die Werke Gottes in der Natur erforschen, so kann es nicht unser Streben sein, ähnliche Schöpfungen nachzubilden, wir wollen nur einen Einblick gewinnen in die wunderbare Kunst und Sorgfalt, mit der alles geschaffen wurde und zum Teil noch jetzt entsteht (S. 126). Der Zweck der Physiologie ist ein rein praktischer. Gas- sendi erörtert ihn in den drei Hauptsätzen de comparanda tran- quillitate, de tollenda admiratione, de consequente voluptate. Danach hat die Physik die Aufgabe, schlimme Verwirrungen der Seele, die Aberglaube und falsche Religion verschuldeten, gründlich zu heben; die echte Religion wird damit nicht unter- graben, im Gegenteil nur gefestigt und gefördert. Bei Be- trachtung des Weltalls dürfen wir aus seiner wunderbaren Größe, Mannigfaltigkeit, Ordnung, Schönheit und Beständigkeit schließen auf eine allmächtige, allgütige und allweise Gottheit, die uns dankbare Anbetung und Verehrung abnötigt. Frei von Wahnvorstellungen des Aberglaubens macht uns ferner ein wissenschaftlicher Einblick in die Himmelserscheinungen und Naturereignisse. Man hört auf, sie Göttern und Dämonen zu- zuschreiben in der Absicht, die Menschen zu schrecken, man erklärt sich alles natürlich nach dem ewigen Gesetz der Kau- salität mit der prima causa Gott an der Spitze. Selbst hinsichtlich der christlichen Hoffnung auf ein Jenseits läßt sich die Physiologie in den Dienst der wahren Religion stellen. Sie räumt gründlich auf mit den heidnischen Sagen von Ixion, Tantalus usw.; weil man bei der Vollkommenheit des weltleitenden Geistes auch eine ideale Gerechtigkeit voraussetzen muß, unsere Vernunft uns also zu dem Schluß zwingt, daß die Gottheit den Guten wohl, den Bösen übel gesinnt ist, die Erfahrung aber den Frommen oft im Unglück, den Gottlosen im Wohlstand zeigt, so ergibt sich die weitere Folgerung, daß es noch einen Zustand nach dem Tode geben muß, in dem die Seelen weiterleben, in dem die Guten den Lohn für ihre Tugend, die Bösen die Strafe für ihre Frevel ernten (S. 128). Wie dieser Ausgleich im einzelnen statt- findet, zu bestimmen, geht natürlich über unser Erkennen hin- aus; wir müssen uns bescheiden mit dem Gedanken, daß Gott einen Weg finden wird. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele hat für den Weisen keinen Schrecken; er braucht die Qualen des Jenseits nicht zu fürchten, an ihre Stelle tritt die freudige Hoffnung, daß er mit dem besseren Teile seiner Persönlichkeit weiterleben wird in einer Existenzform, die dieses Leben an Glück weit übertrifft. Ein Hauptzweck der Physiologie liegt für Gassendi endlich noch auf ästhetischem Gebiet. Der Einblick in die Natur mit ihren bunten, trefflichen und gewal- tigen Bildern, das Forschen, Erklären und Auffinden sovieler Zusammenhänge und Ursachen erfüllt die Seele mit einer eigen- artigen, unbeschreiblichen Lust und hebt Unwissenheit und Befangenheit (ignoratio et admiratio) bei so vielen Erscheinungen (S. 129). Hinsichtlich der Anordnung (ordo tractationis), die Gassendi den drei Teilen seines philosophischen Systems anweist, schließt er sich der Tradition an (S. 29). Bei Logik und Physik ist die Reihenfolge gegeben; sie folgt aus dem Wesen beider. Physik und die übrigen Wissensgebiete unterscheiden sich von der Logik darin, daß sie sich befassen mit einer bestimmten realen Materie, die sie nach Wesen und Gehalt untersuchen. Die Logik dagegen übermittelt dem einzelnen Wissenszweig rein formal allgemeingültige Lehren und Regeln, um die Untersuchung zu erfolgreichem Resultate zu führen. So steht die Logik über sämtlichen Wissenschaften, logica singulis praeit quandamque veluti facem praefert. Gassendi hält es für zweckmäßig (S. 28), die Logik enger mit der Physik zu verknüpfen, denn beide gehen auf die veritas rerum aus im Gegensatz zur Ethik, die sich mit honestas morum befaßt. Ja, er ist nicht abgeneigt, die Logik nur als Einleitung, pars instrumentaria, accessio ad phy- sicam, der Physik vorauszuschicken, quippe cum tradat canones diiudicandae illius, quae a physica disquiritur, veritatis (S. 86). Auch bei den Hauptteilen seines Systems folgt er der alther- gebrachten Anordnung, indem er die Physik der Ethik voran- stellt mit der Begründung, daß die Naturbetrachtung, die eine Läuterung der Seele und Befreiung von Störungen und Unruhe erwirke, unerläßliche Vorbedingung und Voraussetzung für das rechte ethische Verhalten sei. Wenn nun Stoiker und Peripa- tetiker behaupten, die Ethik müsse der Physik vorangehen, denn nach Beruhigung der Affekte sei eine Betrachtung der Natur leichter, erfolgreicher und angenehmer, so will Gassendi diesem Standpunkt eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Selbstverständlich setzt das Studium der Physik gewisse Tu- genden voraus; aber das brauchen nicht die Tugenden eines Philosophen zu sein, der mit seiner ethischen Entwicklung bereits einen gewissen Abschluß erreicht hat, sondern da ge- nügen mehr elementare Tugenden, wie sie Eltern und Pädagogen ihren Kindern und Zöglingen anerziehen, virtutes velut inchoa- tae zum Unterschied von den virtutes perfectae des ergrauten Philosophen (S. 29). — 6 — 3. Der Zweck der Philosphie. Das ganze Studium der Philosophie dient, wie das schon t>ei Besprechung der Physik zum Ausdruck kam, einem rein praktischen Zwecke, der Erlangung der Glückseligkeit, felicitas (S. 3). Daß bei der allgemeinen Sehnsucht der Menschen, glück- lich zu werden, so wenige den einzig richtigen Weg zum Ziel, das Studium der Philosophie, wählen, liegt daran, daß nicht alle Menschen beanlagt sind, mit Erfolg zu philosophieren. Ein germanus philosophus ist undenkbar ohne zwei Merkmale. Einmal muß er beseelt sein von lauterer Wahrheitsliebe, amor sincerus veritatis, keine Aussicht auf materiellen Vorteil darf ihn in seinem Studium bestimmen, sondern nur der heilige Eifer, die Wahrheit zu finden; er darf sich vor keiner Autorität beugen oder auf Trugschlüsse und Täuschungen bauen, sondern allein auf die einfache, reine Vernunft und untrügliche Erfahrung. Die andere Grundvoraussetzung ist lautere Liebe zum sittlich Guten (amor sincerus honestatis). Jede Forderung der Pietät, Achtung, Freundschaft, reinen Humanität muß dem Philosophen heilig sein; ruhig, umsichtig, besonnen, gerecht und uneigen- nützig muß er das Wohl seiner Mitmenschen stets im Auge haben; edel, standhaft, nicht beeinflußt durch Gewalt, Bitten, Lohn muß er auf dem Pfade der Tugend bleiben und durch keine unehrenhafte Handlung darf er seinem Ehrenschilde einen Makel aufdrücken (S. 10). Nach einer ausführlichen Darstellung der Logik und Physik (Tom. I und II bis S. 658) folgt II. die Ethik Gassendis. Ausgehend von dem Begriff als einer Sittenlehre oder Lebenskunst (II S. 659) weist der Verfasser hin auf die rein prak- tische Seite dieser Disziplin: Ethik ist die Kunst, gut und tugendhaft zu handeln. Nur so erreicht der Mensch sein Lebens- ziel, das Glück, denn glücklich ist er, wenn er rechtschaffen handelt und frei bleibt von allen Störungen seiner Seelenruhe (II S. 660). Alle Gedanken über die Ethik gruppiert Gassendi unter die Abschnitte 1. vom Glück (de felicitate); 2. von den Tugenden (de virtutibus); 3. von der Willensfreiheit, dem Zufall, Schicksal und der Weissagung (de libertate, fortuna, fato ac divi- natione). Erster Abschnitt. Die Lehre vom Glück (de felicitate). A. Die Vorbedingungen zu einem glücklichen Leben. Aller Menschen gemeinsamer Lebenszweck (finis vitae) ist Erlangung des Glückes. Somit ist die felicitas das höchste Gut (summum bonum, finis bonorum). In doppeltem Sinne ist sie ein finis, einmal, sofern sie der Gipfel, das höchste aller Güter {zeXog) ist, dann, sofern sie der Zweck, das Ziel ist, um des- willen (ov evexa) alles geschieht. Wenn Gassendi das Wesen des Glückes schildern will, indem er es bezeichnet als den er- strebenswertesten Zustand, der sich denken läßt (S. 661), be- stehend im Genuß jeglichen Gutes und Fehlen aller Übel, so will er nicht mißverstanden sein. Die absolute Glückseligkeit beginnt erst mit dem ewigen Leben, das die Guten nach dem Tode genießen werden, ein Glück, das alles Verstehen über- steigt, ein reines Genießen, klares Schauen und unaussprech- liches Lieben jenes allerhöchsten und allertrefflichsten Gutes, das nichts anderes ist als ipsernet ter-maximus, ter-optimus, ter- gloriosissimus Deus. Um diese ewige Seligkeit kann es sich in unserer Darstellung natürlich nicht handeln. Hier verstehen wir unter Glück nur einen bedingten Zustand, in welchem der Mensch möglichst viele der notwendigen Güter genießt und möglichst wenig unter den Übeln zu leiden hat. Solch angenehmer, ruhiger Lebensgenuß ist stets bedingt und abhängig vom Aufent- haltsort, von Umgebung, Beruf, körperlicher Konstitution, Alter und andern Faktoren. Nach diesem bedingten Glück zu streben, ist ganz naturgemäß, sich aber jenes absolute Glück als er- reichbares Ziel für das irdische Leben stecken, hieße, seine Sterblichkeit vergessen und nicht anerkennen wollen, daß der Mensch ein schwaches und vielen Leiden unterworfenes Ge- schöpf ist. Darin besteht das erreichbare Glück, daß man bei den verschiedenen Graden des Elends, denen man durch seine Geburt verfallen ist, einen solchen Zustand sich sichert, in dem man am wenigsten zu leiden, vielmehr das Bewußtsein hat, alle Güter, die für den Menschen erreichbar sind, sich erschlossen zu haben (S. 663). Ehe Gassendi auf das Wesen des Glückes eingeht, zählt er die Vorbedingungen auf, ohne deren Erfüllung der Mensch seines Lebens nie froh werden kann. Verkehrte und Ver- wirrung erzeugende Vorstellungen (opiniones) sind geeignet, die Seele so befangen zu machen, daß das Glück ausgeschlossen bleibt. Es kommt deshalb darauf an. solche störenden An- schauungen und Wahngebilde zu verscheuchen; das geschieht, wenn man die richtige Auffassung hat von Gott (de Deo, ut nihil mali sit ab ipso metuendum). Wer Gott recht kennt, wird durch sein Wesen, seine einzigartige Liebe zur Menschheit in dem Maße zur Gegenliebe entflammt, daß er einzig der Tugend lebt; er ist danach so fest von der Gnade und Freundlich- keit seines Gottes überzeugt, daß er nur Gutes von ihm hofft und sein Leben in größtem Frieden und Glücke hinbringt (S. 664). Zum andern ist wesentlich für die felicitas des Menschen die rechte Auffassung vom Tode (de morte, ut post ipsam nihil, quod nos attineat, aut unde dolere possimus, supersit). Diese Erwägung ist von größter Wichtigkeit. Denn wer vor dem Tode als dem höchsten Übel beständig zagt, kann nie seines Lebens so recht sich freuen. Eine klare Vorstellung von dem Wesen des Todes trägt viel zur Beruhigung (tranquillitas vitae) bei. Der Tod, der Akt des Sterbens, ist seiner Beschaffen- heit nach nichts Schlimmes, er berührt die Sinne nicht unan- genehm, denn Sinneswahrnehmung ist nur im Körper möglich, der Körper aber hat sich im Tode aufgelöst. Mit dem Tode hören zugleich alle leiblichen Gebrechen und Übel auf. Statt der falschen ängstlichen Sucht, das Leben möglichst lange hin- zuziehen, sollte man lieber die von Gott geschenkte Frist recht genießen und seinem Schöpfer danken für alle Gaben und Güter (S. 665). Der Tod ist eine natürliche und unabwendbare Folge des Geborenwerdens, jedes Ankämpfen gegen dieses Natur- gesetz ist vergeblich und steigert nur noch das Übel. Das einzige Mittel, die Bitterkeit des Abscheidens einigermaßen abzuschwächen, ist gelassene Ergebung und solche Bereitschaft, daß man beim Nahen des Todes sprechen kann: [vixi] et quem dederas cursum, natura, peregi, oder: vocas me, ecce ultro ad- venio; depositum poscis, volens refero; mori iubes me, morior non invitus (S. 666). Es ist manchmal geradezu lächerlich, wie fest sich oft der elendeste Mensch an das arme Leben klammert; der Weise aber fragt nicht nach der Länge, sondern nach der Güte des Daseins, juhgov rov ßiov ov tö tov %qovov jurjxog, aXkä rö xalov. Die suavitas vitae und virtus müssen aber in steter Wechselbeziehung zueinander stehen; auf die Qualität der Handlungen und Fertigkeiten kommt es an, nicht auf die Quantität. Hat der Mensch angenehm und tugendhaft gelebt, so ist seines Lebens Zweck erreicht, gleich- viel wie lang es war (S. 669). Für den Weisen kommt der Tod nie zu früh; er scheidet vom Leben zufrieden, wie man von einem guten Mahle gesättigt aufsteht (S. 670). Eine Stei- gerung des Lebensgenusses durch die Ausdehnung des Dies- — 9 — seits ist gar nicht möglich. Im kürzesten Leben durchläuft der Weise die ganze Weltentwicklung. Er hat die Vorgänge in der Natur, im Weltall und in der Sternenwelt geschaut und ihre mannigfachen Veränderungen und Wechsel studiert. Er kennt die Vorgänge im Menschenleben, Krieg und Frieden, Treue und Verrat, Bildung und Roheit, Einführung und Abschaffung von Gesetzen, er sah Staaten erstehen und zusammenstürzen, durch das Studium der Geschichte kennt er die Vergangenheit so genau, als wenn er sie selbst mit durchlebt hätte. Aus ihr zieht er für die Zukunft die Lehre, es gibt nichts Neues unter der Sonne; alles Geschehen vollzieht sich in ewigem Kreislauf. So vermag also der Weise die Entwicklung der Welt im Geiste zu umspannen (S. 671). Mit dem Grundsatz vieler Philosophen, das Leben freiwillig von sich zu werfen, wenn es nicht mehr lebenswert erscheint, kann sich Gassendi nicht einverstanden erklären. Namhafte Gelehrte und Philosophen verwarfen den Selbstmord; er wider- spricht nicht nur den Anschauungen der Heiligen Schrift, sondern auch der Natur und reinen Vernunft (S. 672). Die Natur hat jeder Gattung von Geschöpfen die Liebe zum Leben ein- gepflanzt, und außer dem Menschen gibt es tatsächlich kein Wesen, das nicht trotz der größten Leiden am Leben festhält. Damit beweist der Mensch, daß er im Selbstmord eine natur- widrige, perverse Handlung begeht; er versündigt sich an der Natur und ihrem Schöpfer, wenn er nicht zum Ziele läuft, sondern mitten in der Bahn den Lauf abbricht, wie der Posten, der ohne Befehl zu früh seinen Platz räumt. Ebenso ist der Selbstmord vernunftwidrig. Das, was uns die Vernunft einem Unschuldigen zuzufügen verbietet, nämlich ihm sein Leben zu rauben, untersagt sie uns doch erst recht uns selbst anzutun, die wir uns nicht hassen, im Gegenteil oft übertrieben lieben. Wenn irgendwo Mannesmut am Platze ist, wo könnte er sich mehr hervortun als in edlem Ertragen der Schmerzen, die ein hartes, unerbittliches Geschick verhängt (S. 673)! Ebenso ver- nunftwidrig ist der Standpunkt der Pessimisten, die das Geboren- werden als schlimmstes Geschick beklagen und möglichst schnelles Sterben als bestes Los feiern. Sie vergessen, daß jedes Leben etwas Angenehmes bietet und sich ihr Grundsatz höchstens auf einen Teil der Menschheit anwenden läßt, auf solche Unglück- lichen, denen man schon bei ihrer Geburt nur Elend und Jammer prophezeien kann. Aber in der Ausdehnung dieses Grundsatzes auf alle Menschen liegt eine schwere, unberechtigte Anklage gegen den Schöpfer, der sich Entscheidung über Leben und Tod vorbehält und alles Geschehen und Vergehen in die Vollkommen- Pfeiffer. 2 — 10 — heit des Weltalls eingeordnet hat. In Wirklichkeit ist es denn auch ganz anders; die meisten Menschen fühlen sich sehr wohl und suchen nach Kräften ihr Leben in die Länge zu ziehen (S. 774). Weiter ist zu beherzigen die Notwendigkeit der richtigen Vorstellung von der Zukunft (de futuro, ut id neque anxie speremus, neque impatienter desperemus). Dieser Grundsatz ist dem vorigen nahe verwandt. Wer von der Zukunft nicht zuviel erwartet, bleibt vor Enttäuschungen bewahrt. Meist treibt das Glück mit dem, der hofft und harrt, sein blindes Spiel. Der Weise wendet darum den Blick der Gegenwart zu und sucht das Heute zu genießen und erschöpfen, als gäbe es kein Morgen. Ist ihm dann noch eine heitre Zu- kunft beschieden, so kommt sie ihm um so überraschender, je weniger sie erwartet war (S. 675). Aber so viele Menschen leiden an dem doppelten Fehler, sie vergessen über ihren Zukunfts- träumen die Gegenwart und achten die Vergangenheit für nichts. Und doch sind die Freuden, die uns die Erinnerung ins Ge- dächtnis ruft, die sichersten; sie können uns nicht wieder ent- rissen werden, wir können sie beliebig oft wieder durcherleben und nachfühlen. Nicht zu unterschätzen ist endlich die Not- wendigkeit der richtigen Stellung zu den Begierden (de cupiditatibus, ut solis naturalibus ne- cessariisque adhaerentes eas, quae nee naturales sunt nee necessariae, negligamus). Die Unterscheidung von natürlichen, notwendigen, unnatür- lichen und leeren Begierden und Bedürfnissen ist notwendig für das wahre Lebensglück. Weil bei anderer Gelegenheit dies Gebiet eingehende Behandlung erfährt, geht Gassend i nicht näher auf die Materie ein. Beherzigt der Mensch diese Lebensregeln, treibt er prak- tische Philosophie, so kann es ihm am Glück nicht fehlen. Denn Philosophie ist Studium der Weisheit, und Weisheit ist für die Seele nicht nur Medizin, welche ihr Wohlbefinden fördert und erneuert, sondern bedeutet die Gesundheit selbst. Sie be- steht in der Beherrschung und Mäßigung der Affekte, welche die Gemütsruhe und das seelische Gleichgewicht stören und zugleich körperliches Unbehagen nach sich ziehen können (S. 676). Hat sich aber der Weise durch contemperantia affectuum die sanitas animi et corporis garantiert, so ist er fähig zum reinen Genießen des Glückes (S. 677). 11 — B. Das Wesen des Glückes. Das wahre Glück besteht im Besitz der Lust (voluptas) und im Fehlen des Schmerzes (dolor). Dieser Satz (S. 678) mag auf den ersten Blick bedenklich erscheinen, er hat seinen Ver- tretern viel Schmähungen und Anfeindung eingebracht, weil man meist nur die unedlen, obszönen Lüste und Leidenschaften meinte, wenn man die Hedoniker und verwandte Richtungen in der Philosophie angriff, trotzdem der Begriff voluptas {fjdovfj) nicht nur die rein körperlichen, sinnlich verwerflichen Lüste, sondern auch alle edeln Regungen und Triebe umfaßt; das ist aus profanen Schriftstellern und auch aus der Heiligen Schrift sichtbar. Gassendi rechtfertigt seinen Standpunkt, indem er nachweist einmal, daß jede Lust (voluptas) schlechthin (per se, ex sua natura) ein Gut, jeder Schmerz (dolor) per se ein Übel ist, sodann, daß die Lust aber auch das höchste Gut ist (sum- ffium bonum, summum bonorum, finis bonorum, identisch [mit felicitas) (S. 679). 1. Jede Lust ist ein Gut, jeder Schmerz ein Übel. Die Frage, ob die Lust ihrem Wesen nach ein Gut sei oder nicht, ist ein altes Problem und hat viel Staub aufgewirbelt (S. 694). Aber ihre Lösung ist gar nicht so schwierig. Jedes Wesen wird beim Eintritt in das Dasein von der Natur mit dem berechtigten Triebe ausgestattet, das Angenehme zu suchen und keine Lust, die sich ihm darbietet, zurückzuweisen, es müßte denn ein Übel mit ihr zusammenhängen, sodaß später das Gefühl der Unlust und Reue folgen würde. Da nun das Wesen des bonum darin besteht, daß es appetitum ad sui amorem et prosecutionem erweckt, so muß jede Lust, quantum ex se est, erstrebenswert und gut sein, da sie gefällt und an- zieht. Wenn wir unter den Lüsten einzelne verwerfen, so sind •es nicht die Lüste selbst, sondern ihre Begleiterscheinungen und Folgen. Wie wir vergifteten Honig meiden nicht um der an sich erstrebenswerten Süßigkeit willen, sondern wegen des in ihm liegenden verderblichen Giftes, so verhält es sich mit jeder Lust, die durch Gesetz, Sitte und Sittlichkeit verpönt ist. Nicht die Lust ex se ist verboten, sondern ex accidenti wegen der Quelle, aus der sie entspringt, oder ihrer Übeln Folgen. Manche verrufene Lust würde man unbedenklich unter die Güter einreihen, wenn man von ihr keine Schädigung der Ge- sundheit, des guten Rufes, des Vermögens, keine Strafe, keine Reue für Diesseits oder Jenseits zu befürchten hätte. Mit 2* — 12 — solchen Argumenten versucht Gassendi auch den Einwurf zu widerlegen, der Mäßige meide die Lüste und der Besonnene ziehe der Erregung in der Lust einen Zustand der Indifferenz und Ruhe vor; manche Lüste, z. B. die venerischen vertrügen sich um so weniger mit der ocoyQoovvt], je stärker sie aufträten, viele zerrütteten nicht nur Geist, Körper und Vermögen, son- dern auch guten Ruf und Ehre. Streng genommen, meint Gassendi demgegenüber, flieht der Weise solche Lüste nicht an sich, denn den Genuß reiner und edler Freude versagt er sich nicht, sondern nur die folgenschweren Handlungen. Nicht die Lust, sondern die sie enthaltende Handlung erschöpft die Geistes- kraft, stumpft den Verstand ab; nicht die Lust per se ist die Ursache von Armut, Krankheit und andern Miseren, sondern die Völlerei schafft verdorbenen Magen, Fieber u. a., der zügel- lose Koitus hat Podagra, scheußliche Seuchen und andere Übel zur Folge; nicht die Lust per se zieht Schmach und Schande nach sich, sondern die mit Gesetz und Sittlichkeit im Wider- spruch stehenden Handlungen werden als Laster verfolgt. So verbieten z. B. die Gesetze nicht die Lust, die aus dem Ehe- bruch erwächst, sondern die Handlung des Ehebruchs; denn da, wo das Verbot fehlt, im reinen Naturzustand oder im legitimen Verkehr von Eheleuten bleibt die Lust dieselbe und gilt doch nicht als ehrlos, weil ja die sie bedingende Handlung nicht verboten oder schandbar ist. Damit ist der Beweis er- bracht, daß die Lust nicht ex se, sondern unter gewissen Ver- hältnissen nur ex accidenti anfechtbar ist (S. 695 u. 696). Mit dem eben nachgewiesenen Satze, daß jede voluptas ex se ein bonum sei, steht nicht im Widerspruch der andere, daß man doch bisweilen auf eine Lust verzichten und statt ihrer sogar einem Schmerze sich unterziehen müsse (de voluptate dolori interdum posthabenda deque dolore praeeligendo). Nicht selten nämlich bietet sich dem Menschen die Aussicht auf eine Lust, deren Genießen einer größern Lust im Wege steht oder solche Unannehmlichkeiten nach sich zieht, daß nur Reue aus ihrem Genuß erwachsen kann. Tn solchem Falle ist es ein Gebot der Klugheit, auf sie zu verzichten. Ebenso gibt es Lüste, die sich nur durch Schmerzen erringen lassen, oder große Übel der Zu- kunft lassen sich nur durch augenblickliche kleinere Schmerzen verhüten. Auch hier wählt der Weise das kleinere Übel, um dem größeren vorzubeugen oder sich einen Genuß nicht zu ver- scherzen (S. 697). Der Satz, daß jede voluptas ein bonum sei> erfährt eine Ergänzung durch den andern: — 13 — 2. DieLust ist summum bonum, finis bonorum, Ob- jekt der felicitas. Wie es in der Reihe der erstrebenswerten Güter ein letztes {eoxatov öqextov) gibt, so muß es auch ein erstes Gut geben (ngcörov olxeTov, bei Cicero: primum aptum adscitum accommo- datumque naturae). Gassendi gibt Epikur recht, wenn er die fjdovri als aQxtj und relog, principium et finis, aufstellt (S. 699). Die Lust ist das erste, von der Natur angeborene Gut; das Streben nach ihr ist allen Geschöpfen eigen; die voluptas ist der Maßstab, nach dem alle Wesen handeln, wenn sie sich zu einem Ding hingezogen fühlen oder von ihm abgestoßen werden. Alle Wesen suchen aber auch ihr ganzes Leben hindurch sich möglichst wohl zu befinden, im Besitz der Lust zu verharren, also ist die voluptas das höchste Gut. Bei anderer Gelegen- heit führt Gassendi zur Bekräftigung seiner Ansicht den von Aristoteles (Eth. X,2) dem Eudoxus zugeschriebenen Beweis ins Feld; dieser geht aus von der Erfahrungstatsache, die keines Nachweises bedürfe, daß alle vernunftbegabten wie unvernünf- tigen Geschöpfe die Lust erstreben. Wie überall das, was er- strebt wird, ein Gut ist, so muß das, was am höchsten erstrebt wird, das höchste Gut sein. Weil nur das, was von allen Lebewesen ohne Ausnahme erstrebt wird, am höchsten erstrebt wird, also das höchste Gut ist, so muß die voluptas, die all- gemein erstrebt wird, das höchste Gut sein. Bei solcher Be- weisführung liegt, so meint Gassendi, der Einwurf nahe: Zu- gegeben, die Lust, ganz allgemein gefaßt, ist wirklich ein Gut, so kann sie doch unmöglich das höchste sein, da auch die unvernünftigen Geschöpfe (brutae animantes) an ihr Anteil nehmen (S. 700). Unser Verfasser gibt ohne weiteres zu, daß bei der großen Auswahl der Güter auch die Tiere vielfach den Genuß einiger mit uns teilen, daß bei der Verschiedenheit der Güter auch für jene ein sogenanntes „summum bonum" existiert, die Lust, nach der sie vor allem andern streben. Aber in dieser Tatsache braucht der Mensch nichts Unwürdiges oder Erniedrigendes zu erblicken. Bei der großen Verschiedenheit der Quellen und Ursachen, die bei den einzelnen Geschöpfen Lust erzeugen, kann trotz der Gleichheit des Begriffs voluptas der Vernunftbegabte sein peculiare, Sondereigentum, haben, eine voluptas nämlich ex ea re percepta, cuius illa sint inca- pacia cuiusque adeo occasione in societatem nobiscum non veniant. Wenn nun die „summa bona" jener mit dem, was für uns summum bonum ist, nur Namen und Begriff der ganz allgemein gefaßten Lust teilen, so liegt für uns kein triftigerer — 14 — Grund der Entrüstung vor, als uns darüber aufzuregen, daß sie die Begriffe Natur, Lebewesen, Substanz, Seiendes mit uns ge- mein haben, teilen sie doch die letzten beiden (substantia und ens) sogar mit dem Deus ter-Maximus. Diesen aus dem ersten Triebe des Geschöpfes abgeleiteten Beweis, daß die Lust das höchste Gut sei, hält Gassendi selbst nicht für völlig überführend und unanfechtbar, denn er rechnet mit dem Einwand, daß man bei der Ungleichartigkeit der Güter, nach denen die verschiedenen Wesen gleich nach ihrer Geburt streben, mit demselben Rechte die Speise oder etwas anderes für das höchste Gut halten dürfte. Darum fügt Gassendi einen neuen Beweis an, der aus dem Wesen des Begriffs „finis, höchstes Gut", klarlegen müsse, daß die Lust mehr als alles andre Endzweck ist. Er fußt ebenfalls auf Eudoxus. Das ist am meisten erstrebenswert oder summum bonum, was nicht eines andern wegen, sondern um seiner selbst willen erstrebt wird. Die Lust ist derart, daß sie nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck zu beurteilen ist, darum ist sie am meisten erstrebenswert oder summum bonum. Nur so, meint Gassendi, ist ein schlagender Beweis möglich, wenn man findet, daß alles, was man treibt, unmittelbar oder mittelbar auf die Lust abzielt, sich um voluptas dreht. Das läßt sich unschwer nachweisen. Jeder vorurteilslose, allein von Wahrheitsliebe geleitete Mann muß anerkennen, wenn er tiefer nachdenkt, daß der Mensch jede Handlung im letzten Grund um einer Lust willen tut. Man darf bei Lust natürlich hier nicht nur an Ausschweifungen, Genuß und Wollust denken, sondern an jede Art von Wohlbefinden, an Freude, Frohsinn, Annehmlichkeit, angenehme, erfreuliche Empfindungen, oder auch ruhigen, sanften, ungetrübten, schmerzlosen Zustand (S. 702). Allgemein pflegt man die Güter, die den Menschen zum Handeln anspornen, in drei Gruppen zu teilen, sie fallen unter die Begriffe Annehmlichkeit, Nutzen und Ehre (iucundum, utile honestum). Daß das bonum iucundum um der Lust willen erstrebt wird, besagt schon der Begriff, iucundum und voluptas sind Synonyma. Aber auch für das bonum utile und honestum läßt sich praktisch der Nachweis führen, daß sie propter vo- luptatem expeti, daß ihr Besitz Lust erzeugt. Gassendi greift zu einer allgemeinen Vorbemerkung weiter aus. Jede Lust setzt eine Begierde (cupiditas) und jede Begierde einen Mangel (indigentia) voraus. Zuerst macht sich die indigentia fühlbar, sie erweckt cupiditas, heben wir den Mangel, stillen wir die Begierde, so werden wir mit Lust erfüllt, die Lust besteht also einzig in Beseitigung des Mangels, Befriedigung der Begierde. — 15 — Ist z. B. beim Mahle Hunger und Durst durch Nahrungszufüh- rung gehoben, so hört im Stadium des Sattseins die Lust auf, darum sucht der Schlemmer durch raffinierte Mittel und Reize die indigentia und cupiditas möglichst hinzuhalten. Der Geiz- hals empfindet nur während der Tätigkeit des Zusammenscharrens seiner Reichtümer Lust, die vollen Geldsäcke lassen ihn kalt; durch den Gedanken, er habe noch nicht hinreichend für seine Zukunft gesorgt, erweckt er in sich immer von neuem das Ge- fühl der indigentia, ihr folgt neue cupiditas, in deren Befriedi- gung er seine Lust findet. Dieselbe Beobachtung läßt sich auf jedem anderen Gebiet machen. Der ehrgeizige Staatsmann be- gnügt sich nicht mit dem erreichten Ziele, stets ruft die Aus- sicht auf höhere Stellung und Auszeichnung in ihm das Gefühl der indigentia hervor, und die Befriedigung der unausbleiblichen cupiditas erfüllt ihn mit Lust. Der Gelehrte hat den rechten Genuß seines Berufes eigentlich nur während der Tätigkeit des Forschens, ist er zu einem abschließenden Ergebnis gelangt, so hat die Materie für ihn den Reiz etwas verloren, scientiam habet quasi in tuto, haud amplius perinde illa tangitur, sed ad aliam cupiditatem exsatiandam convertitur, ut voluptate nova potiatur. Derjenige endlich, welcher am Ausbau seines innern Menschen arbeitet, wird zwar von einer edeln Lust erfüllt, wenn er eine lasterhafte Neigung bezwungen, einen Sieg über sich selbst davongetragen hat, aber dabei begnügt er sich nicht; rastlos wendet er sich weiter zur Bekämpfung eines anderen Affektes, um aus Beseitigung des neuen Mangels neue Lust zu schöpfen. Nach solchen Prämissen sucht Gassendi auszuführen, daß sich das Streben nach dem bonum utile zurückfuhren läßt auf eine in ihm begründete Lust. Das Nützliche erstrebt man nicht um seiner selbst willen, sondern um eines andern willen, und das ist die Lust direkt oder indirekt. Die eine Gruppe der Güter, die unter das bonum utile fallen, dient unmittelbar der voluptas, z. B. angenehme Speisen, Wohlgerüche, schöne Künste und Fertigkeiten, andere Güter, z. B. Geld und Schätze dienen zur Beschaffung dessen, was das Leben angenehm und sorgen- frei macht, haben also mittelbar die Lust zum Ziele (S. 703). Etwas schwerer fällt Gassendi der Nachweis, daß auch das bonum honestum im letzten Grunde nur eine ancilla der voluptas ist; denn das honestum scheint seinem Wesen nach Selbstzweck zu sein, non propter aliud expetendum esse cen- setur. Für unsern Philosophen ist honestum synonym mit virtus, Tugend, Tüchtigkeit, Leistungsfähigkeit; der Begriff um- schließt nicht nur die virtus moralis, sondern auch die virtus — 16 — intellectualis, das Wissen, die Geistesbildung, jede überaus dis- ciplina, quae in ipsa mente illustranda perficiendaque sita est. Diese virtus im weitesten Sinne gefaßt ist ein Zustand (habitus), aus dem heraus die einzelnen Taten und Handlungen (actus) erwachsen. Diese sind nun in doppelter Hinsicht mit Lust verbunden; einmal erweckt das Bewußtsein, rechtschaffen ge- handelt zu haben, innere Befriedigung (voluptas); sodann wirken solche actus nach außen und bringen Ehre (honor) (S. 704 u. 705). Daß sich die virtus mit ersterer begnügen kann, besagt das Wort: virtus ipsa sibi pulcherrima merces, die Tugend ist sich selbst der herrlichste Lohn, ohne der Lust zu bedürfen, die von außen propter honorem hinzukommt. Aber auch letztere ist nicht zu verachten. Zwar kann man sich Ehren auf un- lautre Weise und mit erheuchelter virtus erschleichen, solche Mittel sind natürlich zu verwerfen. Aber die Ehre, die den Lohn echter Tugend und Besonnenheit darstellt, ist nicht zu vermissen; sie ist ein naturale quasi desiderium, das sich nicht unterdrücken läßt. Der Ehrgeiz ist Triebfeder der größten und edelsten Handlungen, nur mag schnöder Gewinn aus dem Spiele bleiben. Eine zwiefache Art von Lust läßt sich unterscheiden, wegen der man nach Ehren strebt; einmal ist es das Wonne- gefühl, das einen durchzieht bei dem Gedanken, ein berühmter Mann zu sein und von den Edelsten der Nation gepriesen zu werden, zum andern ist es ein Sicherheitsgefühl (securitas), wenn man sich wegen seiner virtus die Liebe und Achtung der Mitbürger erworben hat, oder wegen seiner hohen Stellung (dignitas) nicht mehr von den Beleidigungen und Schmähungen anderer erreicht wird (S. 705). Noch reiner und edler ist allerdings die Lust, die aus der virtus als solcher, quae ipsa sibi pulcherrima merces est, er- wächst, virtus immer in dem weitesten Sinn (moralis und in- tellectualis) gefaßt. Mit Begeisterung zitiert Gassendi Schrift- steller (Cicero, Aristoteles u. a.), die überschwenglich die Wonne und Befriedigung erheben, welche sich z. B. aus der Natur- forschung, dem Einblick in den Kausalzusammenhang der Geschichte, der scharfen Logik in der Mathematik, aus den Schönheiten der Poesie, aus der Eleganz der Rhetorik usw. er- schließt. Noch höher aber steht die virtus moralis als höchste und edelste Quelle aller wahren Lust (S. 706 f.), deren Behandlung Gassendi einen speziellen Teil seiner Ethik (de virtutibus) widmet. Darum beschränkt er sich hier darauf, nur im allgemeinen das hohe Gut der virtus zu prüfen, es kann ja keine erhabenere Lust geben, als ein reines Gewissen sein eigen zu nennen, sein nach den Regeln der Tugend und Weisheit wohl disponiertes — 17 — Leben in edler Ruhe zu verbringen, keine Pflicht zu versäumen, niemand sich zum Feinde zu machen, möglichst vielen ein Helfer und Freund zu sein. In drei allgemeinen Sätzen schließt Gassendi diesen Ab- schnitt. Zum ersten hat man mit gutem Grunde die Tugend verglichen mit einer Pflanze, die zwar eine bittre Wurzel, aber eine um so süßere Frucht besitzt. Hesiod hat recht mit seinem Auspruch rfjg ö 3 äger^s lögcora fieol TiooTiäooifiev e&iqy.av etc. Die Tugend ist nur unter schwerem Ringen zu erreichen, aber sie lohnt auch mit wunderbarer Lust. An Herkules und seinem Leben läßt sich diese Wahrheit trefflich illustrieren. Er stieß die sinnliche fjöovrj von sich, um sich nach schweren Aben- teuern und gewaltigen Arbeiten eine weit höhere Lust zu er- ringen. Alles tat er um der voluptas willen, die für ihn lag im Bestehen der Gefahren und dem unvergänglichen Ruhm bei der Mit- und Nachwelt (S. 707). Zum andern weichen die Philosophen, welche der voluptas den Krieg erklären, um die virtus in desto hellerm Lichte er- strahlen zu lassen, nur im Ausdruck und nicht in der Sache ab. Davon ganz abgesehen, daß mancher dieser Tugendprediger, wenn er im Besitze einer unsichtbar machenden Tarnkappe wäre, den Mühen und Beschwerden Lebewohl sagen und sich der Lust in die Arme werfen würde, ist zu bemerken, daß auch die epikureische Lehre der Tugend eine sehr würdige Stelle anweist. Sie ist ihr zwar nicht höchstes Gut, letztes Ziel, wohl aber das geeignetste Mittel zur Erlangung des summum bonum. Wenn Gegner Epikurs (Cic. Tusc. 4 u. a.) lehren, virtutem ad beate vivendum se ipsa esse contentam, so geben sie damit zu, daß die Tugend nicht höchstes Gut oder Endzweck, sondern nur Mittel zum Zweck (vita beata) ist. Selig und glücklich leben ist aber im Grunde nichts anderes als angenehm oder cum voluptate leben (S. 708). Endlich haben auch alle diejenigen, welche scheinbar aus reiner Liebe zur Tagend ohne alle selbstischen Nebenrücksichten handeln, als letztes Ziel die Lust im Auge. Das gilt von der Freundschaft, deren eingehendere Behandlung in den zweiten Teil, die Tugendlehre, gehört. Ebenso wie die Freunde handeln auch die hervorragendsten Patrioten nur um der Lust willen, selbst wenn sie ihr Leben für die Freunde oder das Vaterland in die Schanze schlagen. Winkt ihnen auch für den Augen- blick keine Lust, so ist doch der wohltuende Gedanke, An- gehörigen und Mitbürgern die Freiheit zu sichern, großen Segen zu stiften und in dankbarer Erinnerung bis in die fernste Nach- welt im Lied und Denkmal unvergessen zu bleiben, Triebfeder — 18 — zu den schwersten Opfern. Selbst wenn Eltern ihre eigenen Kinder auf dem Altare des Vaterlandes opfern, wie es Torquatus tat (S. 709), so ist letztes Motiv ihrer Tat die Lust. Sie sehen im Geiste, wie viel Kummer und Schande ein mißratenes Kind den Eltern bereiten kann, darum halten sie es für dienlicher, durch einen Schmerz in der Gegenwart sich gegen weit größere in der Zukunft zu wahren. Selbst die scheinbar uneigennützigste und edelste Tugend, die Frömmigkeit, macht keine Ausnahme. Die Heilige Schrift läßt an den verschiedensten Stellen keinen Zweifel darüber, daß die Frömmigkeit um der Lust willen ge- pflegt wird, weist sie doch hin auf die zeitlichen und ewigen Gnadengaben, die Gott seinen Kindern in Aussicht stellt. Die Gottesliebe der Frommen würde bedenklich erkalten, wenn sie von Gott keine Gegenliebe und keinen Lohn zu erwarten hätten (S. 710). Somit glaubt Gassendi den Nachweis geführt zu haben, daß die Lust höchstes Gut, letzter Zweck ist, quod sie ex- petatur propter se, ut caetera omnia expetantur propter ipsam. Diese Wahrheit kommt einem erst dann klar zum Bewußtsein, wenn man sich das Gegenteil der Lust, den Schmerz, in seinen verschiedenen Formen und Schrecken vor die Seele führt (S. 711). Auf gleiche Weise ließ sich der Nachweis führen, daß der Schmerz das größte Übel ist (S. 714 u. 715). C. Das summum bonum des Weisen. Bisher hatte Gassendi von der Lust im allgemeinen ge- sprochen, nunmehr wendet er sich speziell zu der einzig wahren, höchsten Lust, die der Weise als Ideal erstrebt, sie besteht in seelischem Gleichmaß (tranquillitas animi) und körperlicher Schmerzlosigkeit (indolentia corporis). Diese summa voluptas repräsentiert so großen Wert, weil sie einmal durchaus natur- gemäß (maxime naturalis) ist; sie ist von der Natur als letztes Ziel gesteckt, während alle übrigen Lüste, die sich in der Be- wegung äußern, nur Mittel zu ihrem Besitze sind (die Lust des Essens z. B., die das Unlustgefühl des Hungers beseitigen soll, hat als letztes Ziel den Ruhezustand des Sattseins). Sie ist ferner am leichtesten erreichbar (obtentu facillima), weil es in jedermanns Macht steht, seine Leidenschaften zu zügeln, um eine ruhige Gemütsverfassung zu behalten und von körperlichen Schmerzen möglichst verschont zu bleiben. Dann bewährt sie sich als sehr beständig (durabilissima); im Gegensatz zu den voluptates in motu, die nur auf dem Augenblicke beruhen, — 19 — währt jene fortdauernd (uno tenore est) und kann nur durch unsre eigne Schuld verscherzt werden. Endlich entbehrt sie jedes bittern, schädlichen Nachgeschmacks (maxime poenitentiae expers), während alle andern voluptates sich in Leiden ver- kehren können (S. 715). Um sich den Besitz dieser idealen voluptas zu sichern, muß der Mensch erst eine lange Entwicklung bestehen, manche Enttäuschung erfahren, sich von der Halt- und Wertlosigkeit so mancher anderen Lust überzeugen, bis er mit Hilfe der Weis- heit die tranquillitas und indolentia als höchstes Gut erkannt und errungen hat. Man irrt, wenn man sich darunter dumpfen Stumpfsinn vorstellt, vielmehr ist es ein Zustand, in welchem sich alle Lebensaktionen geräuschlos und angenehm zugleich abwickeln (S. 716). Das Leben des Weisen gleicht ebensowenig einem schäumenden Gebirgsstrom wie stagnierendem Sumpf- wasser, sondern dem Spiegel eines in majestätischer Ruhe da- hingleitenden Flusses. Keine voluptas in motu vermag diese Lust zu steigern, sie kann höchstens eine Abwechslung erfahren. Ohne die tranquillitas ist die Lust keine Lust. Denn wie kann der Mensch genußfähig sein, wenn seine Seele in Aufregung, sein Leib von Qualen gefoltert liegt? Nunmehr geht Gassendi näher auf das Wesen des summum bonum ein, es erweist sich, wie bereits angedeutet wurde (S. 717), zunächst als tranquillitas animi. Sie ist nicht, das gilt von neuem zu betonen, aufzufassen als starre Trägheit, müßiges, schlaffes Nichtstun, sondern als sanfte, milde Gleichmäßigkeit der vernunftbegabten Seele, als ev'dvfxia xal eveoxco, d. h. edle, gleichmäßige Verfassung des Ge- müts; ihr verdankt es die Seele, wenn es ihr gelingt, sich in jedes glückliche und widrige Geschick zu finden, sich stets gleich zu bleiben, nie in ausgelassener Freude oder betäubendem Trübsinn die Fassung zu verlieren. Darum heißt sie auch bei den Alten axaga^ia, äoyh]ovvr\, yalrjvoTrjg u. a. Wie man vom Schiff sagt, es erfreut sich ruhiger See (tranquillitas), nicht nur, wenn es mitten auf dem Meere unbeweglich hegt, sondern vor allem, wenn es bei günstigem Wind zwar hurtig aber gleich- wohl sanft und gleichmäßig dahingleitet, ebenso kann man eine Seele tranquillus nennen nicht nur, wenn sie in Muße lebt, sondern auch, wenn sie Großes und Treffliches erwägt ohne innere Erregung und Störung ihres Gleichgewichts. Von Ver- wirrung und Trübung der Seele aber spricht man nicht nur, wenn sie beim Handeln in Leidenschaft aufwallt, sondern auch, wenn mitten in der Ruhe Kummer an ihr zehrt, Gram und — 20 — Schmerz sie martern und aufreiben (S. 718). Die Bedeutung der Tugenden für die suavissima suavitas der Seelenruhe wird klar, wenn man an ihre Aufgabe denkt, die Leidenschaften zu stillen und somit tranquillitas zu ermöglichen, sodaß der Mensch wie in einem geschützten Hafen vor Sturm und Wetter sich geborgen weiß. Aus dem Wesen der tranquillitas scheint zu folgen, daß man sich ihrer nur in einem zurückgezogenen Leben philo- sophischer Beschaulichkeit erfreuen kann; aber auch mitten im Getriebe des öffentlichen Lebens ist ihr Besitz nicht unmöglich; das setzt eine doppelte Art von Leben und Glück voraus, ein tätiges und ein beschauliches (vita, felicitas activa und contem- plativa). Selbst wenn also jemand durch Standesrücksicht, Be- anlagung oder Zufall auf die politische Laufbahn gedrängt ist, so kann er bis zu einem gewissen Grade (quadamtenus) während der zerstreuendsten und aufreibendsten Staatsgeschäfte sich seine philosophische Ruhe wahren. Nur mag er nicht in blindem Drange, sondern mit möglichster Vorsicht sich mit den Ereig- nissen auseinandersetzen; er muß sich stets wie von erhabener Warte aus den freien Blick zu erhalten suchen und nicht im Gewühl der Menge selbst durch die Geschicke haltlos sich schieben lassen; er mache sich auf einen andern als den be- absichtigten Erfolg seines Handelns gefaßt und bleibe sich dessen stets bewußt, daß die Außenwelt seinem Willensbereich nicht unterworfen ist wie sein Inneres; jeden Schicksalschlag schließlich ertrage er mit Gleichmut. Das sind die Vorbedingungen, unter denen der Weise auch im Aufruhr und den Stürmen politischer Tätigkeit sich das hohe Gut der tranquillitas animi sichern kann (S. 719). Trotz alledem ist aber die kontemplative Seelenruhe der aktiven vorzuziehen. Das beschauliche Leben verdient den Vor- zug vor dem tätigen, weil in jenem die edelste und göttlichste Seite des Menschen, die Weisheit, in Punktion tritt, welche die reinste und beständigste Lust verbürgt (contemplationi laudes tribuendae sunt, quando revera esse actio non potest aut dignitate praestantior, aut voluptate sincerior, aut constantia diuturnior, aut exercitatione facilior). Man mache sich nur den beständigen Wechsel auf dieser Welt klar; Reiche, Religionen, Sitten, Anschauungen kommen und gehen, finden Anerkennung oder werden verworfen; eins bleibt sich immer gleich, das ist die menschliche Wankelmütigkeit, Schwäche und Blindheit, welche die Menschen dauernd elend machen werden, solange sie sich von Ehrgeiz, Habsucht und andern Affekten hinreißen lassen; allenthalben nichts als Kampf und Sorge, die man sich doch — 21 — so leicht aus der Brust reißen könnte, wenn man nur in Zu- friedenheit ein ruhiges Leben ohne Hasten und Jagen führen wollte. Wer solche und ähnliche Betrachtungen anstellt, der fühlt sich schon bei der bloßen contemplatio glücklich und sicher (S. 720). Die andere Seite der voluptas des Weisen, die Schwester der tranquillitas animi, ist die indolentia corporis. Krankheiten des Leibes sind oft viel schwerer zu heilen als Gemütsstörungen. Letztere beruhen vielfach auf krankhafter Einbildung; beseitigt man ihre Ursache, so kann die Seele so- fort genesen. Körperliche Schmerzen aber können oft trotz größter Vorsicht nicht vermieden werden, da sie vielfach in körperlicher Veranlagung oder Vererbung begründet liegen. Man denke nur an die Unzahl der menschlichen Krankheiten, Leiden und Nöte. Wer von ihnen betroffen wird, lernt die indolentia schätzen, vyiaiveiv juev ägiorov dvögl dvrjjcp. Wir dürfen darum den zweiten Teil der felicitas, die aoyh-joia, ävalyrjoia, das aaia ocojua jui] älyelv nicht gering anschlagen. Leichte und kurze Schmerzen kann man wohl ertragen, man schickt sich in Ge- duld darein, um das Übel nicht zu verstärken; aber doch ist jedermann froh, wenn er die Schmerzen überstanden hat (S. 721). Zwar haben sich große Männer bei heftigsten Körperschmerzen ihre Gemütsruhe bewahrt und sich in ihrem wissenschaftlichen Studium nicht stören lassen; gleichwohl ist im allgemeinen die indolentia die Vorbedingung für den Genuß aller edlen und reinen Lüste (sincerae voluptates) des Leibes wie der Seele. Die enge Verbindung von Körper und Seele bringt es mit sich, daß sich nur bei voller Gesundheit alle Lebensfunktionen ent- falten können. Findet der Kranke schon an körperlicher Lust (Speisen, Musik, Spielen, Jagd usw.) keinen Gefallen, wie viel mehr fühlt er sich in seinen Meditationen gestört. Glücklich darum, wem die Natur die Gabe der Gesundheit in die Wiege gelegt, oder wer ererbte Krankheiten durch Selbstbeherrschung besiegt oder ganz gehoben hat, so daß sie für den Geist kein Hindernis mehr sind, die Lust zu genießen. Daraus erwächst für den Menschen die heilige Pflicht, um der Seele willen dem Leibe stets die indolentia zu erhalten durch Betätigung der temperantia. Die nähere Beleuchtung dieser Tugend gehört in die Pflichtenlehre (S. 722). Vergleicht man die tranquillitas und indolentia ihrem Werte nach, so ist ersterer der Vorzug zu geben. Das folgt schon aus dem Wesen des Leibes und der Seele (S. 688 u. 689). Der — 22 — Leib empfindet nur die Gegenwart, die Seele aber kann sich auch in Vergangenheit und Zukunft versetzen. Wie der Geist weit über der Materie steht und die Seele fast den ganzen Menschen ausmacht, so wird sie dementsprechend auch am meisten durch das höchste Gut, die Lust, oder deren Gegenteil, den Schmerz, affiziert. Körperliche Leiden lassen sich durch die Heilkunde leicht erkennen und oft schnell heben; anders die seelischen, denn die Vernunft, der die Rolle des Arztes zukommt, ist ja selbst krank, gestört und kann keine Diagnose stellen, darum kleiden sich oft Störungen der Seele selbst in den Mantel der Tugenden. Niemand wird ein körperliches Leiden mit seinem Gegenteil benennen, etwa Podagra für Schnelligkeit zu Fuß ansehen; bei geistigen Defekten aber ist solche Begriffsverwirrung nicht selten, aufbrausendes Wesen gibt sich gern für Tapferkeit, Feigheit für Vorsicht aus, und gerade die tückischste Krankheit der Seele, die Niedergeschlagen- heit, der Trübsinn (aegritudo) weiß gar geschickt ihre Berechtigung nachzuweisen. Daß man zur Bestrafung großer Verbrecher im Gesetz zunächst keine seelischen Strafen sondern nur körper- liche vorgesehen hat, ist wohl darin begründet, daß der Gesetz- geber nicht dieselbe Gewalt über die Seele wie über den Leib hat; er kann also als Strafe nicht direkt aegritudo verhängen, sondern nur körperliche Züchtigung zum Zwecke der Abschreckung. Indirekt aber wird doch die Seele des Verurteilten getroffen. Der Gedanke an die Schande, die er über sich und seine Angehörigen heraufbeschwört, an den Schmerz seiner Lieben, ihre Klagen und Verluste, dieses seelische Moment peinigt ihn am meisten und macht die Strafe zu einer schrecklichen (S. 689). Zum Abschluß seines ersten Abschnitts kann es sich Gassendi nicht versagen, der Mäßigkeit (temperantia) als der Beschützerin des summum bonum ein Loblied zu singen (S. 725 bis 735). Sie stattet den Menschen aus mit avraQxeia, einer Genügsamkeit, die sich zufriedengibt mit der Bestreitung der notwendigsten Bedürfnisse. Damit sichert sich der Weise die indolentia corporis und tranquillitas animi ; er bleibt befreit von den Übeln Folgen der Schlemmerei und Ausschweifungen, die den Leib zerrütten, den Geist lähmen und abstumpfen ; er kennt nicht die Sorgen, die der Reichtum mit sich bringt. Was er zu seiner täglichen Notdurft bedarf, kann sich der Genügsame leicht beschaffen, die Mutter Natur läßt niemand verhungern. Er ist schließlich gegen die Mißgunst des Geschickes gefeit; die Armut braucht er nicht zu fürchten, sie kann ihm die wahren Güter nicht rauben, er trägt sie in sich geborgen in seiner Tugend. — 23 — Zweiter Abschnitt. Die Lehre von den Tugenden (de virtutibus). Unter Tugend versteht Gassendi nicht virtus im engsten Sinn, gleichbedeutend mit Tapferkeit, auch nicht eine einzelne geistige oder körperliche Fähigkeit oder Fertigkeit (facultas) oder eine vorübergehende Stimmung, sondern das, was der Grieche mit ägerrj ausdrückt, die Vollkommenheit der Seele (perfectio animi), einen Zustand (habitus), in dem wir uns den Leiden- schaften gegenüber völlig gerüstet wissen. Gassendis Anschauung vom höchsten Gut entspricht es, wenn er die Tugenden nicht als Endzweck des menschlichen Handelns, sondern nur als Mittel zur Erlangung des summum bonum, der voluptas, hinstellt. Von seinem Standpunkt konsequent ist der Satz, nur der Weise kann tugendhaft leben, denn er ist allein des Besitzes der tranquillitas fähig, den die Tugenden vermitteln. Bei der engen Verbindung von 'virtus und sapientia ist eine weitere Folge die Lehre, daß die Klugheit (prudentia) unter den Einzeltugenden als Königin thront, ohne sie sind die andern nicht denkbar, sie verhält sich zu den übrigen wie das Haupt zu den Gliedern, die Quelle zu den Bächen. In Einteilung und Anordnung der Tugenden schließt sich Gassendi der Überlieferung an, er be- zeichnet als die vier Kardinaltugenden die Klugheit (prudentia), Mäßigkeit (temperantia), Tapferkeit (fortitudo) und Gerechtigkeit (iustitia). (S. 736—742.) A. Prudentia. Sie steht mit Recht an der Spitze der Tugenden als Königin; zum Unterschied von dem synonymen Begriff sapientia ist sie mehr als moralische Fähigkeit zu verstehen, die alle Lebens- funktionen leitet, das Gute vom Bösen, das Nützliche vom Schädlichen unterscheiden lehrt und somit dem Menschen vor- schreibt, was er wählen oder meiden soll, kurz ihm den Weg zu einem guten und glücklichen Leben zeigt (S. 743). Der vir prudens wägt mit der Wage der Vernunft bei jeder Gelegen- heit ab, wie er im Einzelfalle zu handeln habe, damit sein Leben ein harmonisches werde und alles Wollen einheitlich auf das höchste Ziel, das Lebensglück, gerichtet bleibt. Man kann darum die prudentia auch als ars vitae definieren. Je nach den verschiedenen Gebieten, auf denen sich der Mensch zu betätigen hat, unterscheidet man als Unterabteilungen die prudentia privata, oeconomica, politica (S. 744). — 24 — 1. Prudentia privata. Sie heißt auch juovaonxij oder solitaria, nicht etwa, weil sie dem Privatmann oder Eremit zu empfehlen wäre, der fern von der menschlichen Gesellschaft lebt, sondern weil der Mensch selbst als Individuum mit einer gewissen „persönlichen Klugheit" ausgestattet sein muß, um auf dieser Basis in den verschiedenen Lebenslagen erfolgreich operieren zu können. Der prudentia privata fällt die doppelte Aufgabe zu, dem Menschen eine bestimmte Lebensform (genus vitae), einen Beruf, zu wählen, sodann in diesem status alle einzelnen Handlungen nach den Gesetzen der Vernunft und der Norm der Tugend zu gestalten. Die erste Aufgabe ist namentlich besonders folgenschwer für solche, die nicht schon durch Stand, Umsicht der Eltern oder ausreichende Mittel ihre Zukunft gesichert finden. Auf keinen Fall stürze man sich blindlings ohne Prüfung auf einen Beruf; man ziehe erfahrene, weise Männer zu Rate, berück- sichtige Anlagen, Neigungen und Kräfte und lasse es bei der Unbeständigkeit alles Irdischen auch nicht an Gottvertrauen und Gebet fehlen ; bei widrigem Geschick wappne man sich mit Geduld und Geistesstärke, namentlich wenn man seine mißliche Lage nicht ohne Übertretung der Gesetze bessern kann (z. B. in unglücklicher Ehe, Zölibat, religiösen Zweifeln usw.) (S. 747). Die andere Aufgabe, alles Tun vernunftgemäß und tugend- haft zu gestalten, wiederholt sich bei sämtlichen Tugenden. Bei der Ungeheuern Mannigfaltigkeit der Situationen, in die ein Mensch geraten kann, ist eine erschöpfende Besprechung der Einzelfälle ausgeschlossen, darum nur der allgemeine Leitsatz: nihil aggredi temere, nicht unbedachtsam etwas angreifen, wofür man sich keinen vernünftigen Grund angeben kann ; mache dir die Tragweite deines Handelns stets klar und laß die ruhige Überlegung nie durch eine Leidenschaft getrübt werden; rechne stets mit deiner Umgebung; überschätze nicht deine und der Mitarbeiter Kräfte ; baue weniger auf das Glück als auf eigenen Fleiß und Scharfsinn; sei dir von Anfang an klar über den Weg, der zum Ziele führen kann ; erfasse den rechten Zeitpunkt ohne Übereilung und Zögern ; sei beharrlich ; weiche nicht des Nutzens wegen vom Pfade der Tugend ab ; erhalte dir ein un- beflecktes Gewissen, nur so ist reines Lebensglück möglich (S. 748). 2. prudentia oeconomica. Ihr Wirkungsbereich ist die Verwaltung des Vermögens und Hauses ; hier tritt das Individuum handelnd auf als Familien- — 25 — vater im Hinblick auf die Kinder, als Gatte im Verhältnis zur Frau, als Herr gegenüber der Dienerschaft, als Verwalter in bezug auf das Vermögen. Diese naturgesetzten Verhältnisse (S. 750) lassen die Klugheit unter einem vierfachen Gesichts- punkt in Aktion treten, a) als prudentia nuptialis, yapaxr], in der Stellung des Mannes zum Weib. Hier kommt zunächst die Wahl der Lebensgefährtin in Betracht; innere Vorzüge, nicht äußere Reize müssen den Ausschlag geben. In der Ehe soll der Mann durch besonnene Liebe sich die Achtung und Bewunderung des Weibes erringen. Stets behalte er sich die Leitung des Haushaltes vor, ohne Tyrann zu sein; das Haus sei des Weibes Wirkungskreis. In die Aufgaben des Mannes gestatte er der Gattin so viel Einblick, als ihrem Ver- ständnis entspricht; ganz schalte er sie nicht aus. So hat er im Glück eine freudige Mitarbeiterin, im Unglück eine Genossin, die seine Last tragen hilft. Mit der ehelichen Treue nehme man es ernst, um der Konsequenzen willen, die das Weib auch für sich ziehen könnte, ganz abgesehen davon, quid femina furiens possit. Ist die Möglichkeit eines Zusammenlebens für Gegenwart und Zukunft ausgeschlossen, so greife man zu den gesetzlich zu- lässigen Mitteln der Trennung oder Ehescheidung (S. 751). b) Als prudentia paterna, jiargiy.^, betätigt sich die Klug- heit schon in der Kinderzeugung. Gassendi erkennt die Tat- sache der erblichen Belastung an, das Sprichwort: genuit te parens, cum ebrius esset, birgt eine ernste Wahrheit. Nach der Geburt stille die Mutter ihr Kind selbst, das ist am natur- gemäßesten ; mindestens muß eine körperlich und geistig normale Amme beschafft werden. Für die geistige und sittliche Ent- wicklung des Kindes ist während der Erziehungsperiode die Persönlichkeit des Lehrers von unschätzbarem Werte; darum weg mit falscher Sparsamkeit, sie rächt sich bitter im ganzen Leben. Bei der Wahl des Berufs rechne man mit den pekuniären Mitteln und der Anlage des Kindes. Stets aber behalte der Vater die Autorität über das Kind; in allem lasse er seine Liebe durchblicken auch bei der Züchtigung, nur so wird der immer allgemeiner auftretenden Unbotmäßigkeit der Jugend am wirksamsten gesteuert. c) Als prudentia herilis, domestica, deoTtozixrj, bewährt sich die Klugheit in der Auswahl und Anleitung der Untergebenen. Man übe Strenge ohne Grausamkeit, knausere nicht mit Aus- zeichnung und Belohnung; Anerkennung und Würdigung der Leistung erweckt Achtung, Liebe und Schaffenslust. Stets halte man sein Wort, nicht nur um der Gerechtigkeit, sondern auch der Klugheit willen (S. 752). Pfeiffer. 3 — 26 — d) In der prudentia possessoria, xzrjTixr], endlich zeigt sich der Mann als umsichtigen Hort und Ernährer der Familie. Nie dürfen die Einnahmen von den Ausgaben überschritten werden, selbst wenn Stand und gesellschaftliche Rücksichten noch so hohe Anforderungen stellen; Geiz aber ist ebenso verkehrt wie Verschwendung. Man behalte stets den Überblick über sein Vermögen und gehe darauf aus, durch weise und ehrenhafte Erweiterung des Besitzstandes die eigene und der Familie Zu- kunft zu sichern. Es ist aber nicht einerlei, wie man wohlhabend wird. Am edelsten ist immer noch der Erwerb des Bauers und Großkaufmanns, weniger ehrenvoll der des Tagelöhners und Kleinkrämers ; schmutzig und schandbar vollends ist es, durch Ausbeutung sinnlicher Leidenschaften sich zu bereichern ; nicht viel höher steht der, welcher durch Kriecherei und Schmeichelei sich einflußreiche Ämter erschleicht oder durch Betrug, Meineid und Diebstahl sich Schätze anhäuft (S. 753). 3. Prudentia politica. Sie spielt ihre Rolle bei Leitung des Staates, ist also für das Staatsoberhaupt erste Voraussetzung. Bei Beurteilung der einzelnen Staatsformen und Verfassungen gibt Gassendi dem Königtum trotz mancher Übelstände den Vorzug. Einheit der Verwaltung bietet am meisten Schutz und Sicherheit nach innen und außen. Die Herrschaft des Hauses ist darum auch mon- archisch ; die Alten griffen in Zeiten höchster Not zur Diktatur, schließlich haben wir im Weltregiment Gottes den Urtypus der gottgefälligen Staatsform, der Monarchie (S. 755). In ermüdender Ausführlichkeit geht nun Gassendi auf die Merkmale ein, die einen klugen Herrscher charakterisieren; ich fasse sie in kurzer Übersicht zusammen. Zunächst gibt er Lehren allgemeinen Inhalts. Ein idealer Monarch hat als einziges Ziel die Wohlfart seines Volkes im Auge (S. 758). Ruhm, Liebe und Verehrung seiner Untertanen achte er als edelsten Lohn. Er festige sein Ansehen durch Herrschertugenden: Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Treue, Tapferkeit und Milde, Weisheit und Mäßigung gepaart mit Würde und Freigebigkeit. Den Charakter seines Reiches sollte er kennen, mit all seinen Verhältnissen vertraut sein, seine Schwächen und seine Stärke wissen. Also Geschichtsstudium im weitesten Sinne verrät politische Klugheit. Bei der Vielseitigkeit des Amtes sind weise Ratgeber unerläß- lich, die ihre Jahre, Erfahrung, Rechtschaffenheit und Treue empfehlen. Der König lerne ferner die Wahrheit vertragen, die Schmeichelei verabscheuen. Mit Scharfsinn stelle er den — 27 — rechten Mann auf den rechten Posten. Immer stehe ihm aber auch eine ausgiebige Staatskasse zur Verfügung, cum in eo sint agendorum nervi (S. 759). Endlich aber fehle auch der geeignete Schutz für das Land nicht ; er besteht in festen Burgen, gut einexerzierten Truppen und schlagfertigen Reserven gegen den Ansturm äußerer und innerer Feinde, in mächtigen Bundes- genossen und namentlich guter Orientierung über die Vorgänge im Lande und draußen. Nur große Rüstungen können den Frieden dauernd sichern. Nach diesen allgemeinern Geboten staatsmännischer Klug- heit geht der Verfasser spezieller ein auf die prudentia togata, die Klugheit, die erforderlich ist, um im Friedensgewande ein idealer Herrscher zu sein. Da erweise er sich als ein Hort der Frömmigkeit und Pietät, pflege er alle edeln Künste und Wissen- schaften, Handel und Gewerbe; durch Eindämmung zersetzenden Luxus' und Linderung unverschuldeter Armut halte er auf Tugend und Wohlstand. Zum Glück des Landes aber ist der Frieden unumgänglich notwendig. Zuverlässige, umfangreiche Streit- kräfte halten innere und äußere Feinde am besten in Schach. Den Revolutionen beugt man vor durch Gerechtigkeit, Beschützung der Schwachen, Steuerentlastung der Armen (S. 760). Partei- ungen und Aufstände ersticke man im Keim durch Vermittlung angesehener, verdienstvoller und beliebter Männer oder mit Gewalt. Ist aber der Bürgerkrieg ausgebrochen, so lege man ihn bei durch Verzicht auf einige angefochtene Rechte oder dämpfe ihn mit eiserner Faust. Die Rädelsführer bestrafe man hart, die Verführten wie ein verzeihender Vater. Auf keinen Fall aber gebe man mutlos die Sache verloren. Zur Kriegszeit hat sich die Klugheit zu betätigen als pru- dentia militaris; sie erstrahlt in vollem Glänze in suscipiendo bello. Man breche nicht unbesonnen ohne gute Rüstung den Krieg vom Zaune, vermittele lieber, wenn auch unter hohen Opfern, oder man nehme alle Kraft zusammen; Gottvertrauen hat schon oft dem Schwächern zum Sieg verholfen. Nie aber unternehme man einen ungerechten Krieg. Während der Kriegs- dauer (in gerendo bello) darf einem besonnenen Herrscher nicht fehlen geeignetes Material, gute Waffen, ausreichender Proviant und das erforderliche Geld. Auf einen geschickten Führer kommt oft alles an, die Leitung sei darum einheitlich, strenge Manneszucht und Selbstvertrauen machen die Leute zuversicht- lich, den Feind aber verzagt. Die Strapazen müssen dem Alter und der Leistungsfähigkeit der Soldaten angemessen sein, Landeskinder sind zum Dienst vorzuziehen, sie kämpfen für ihre heiligsten Güter; gute Übung und Disziplin bedeutet halben 3* — 28 — Sieg; Fußvolk und Reiterei an rechter Stelle sind gleich wichtig (S. 761). Die Bewaffnung muß den modernen Anforderungen genügen. Den Pulverwaffen verspricht Gassendi die Zukunft. Schwarzbrot ist der geeignetste Proviant. Es darf nie ausgehen, sonst ist das Heer lahmgelegt, und die stolzeste Burg muß ohne Schwertstreich kapitulieren. Die Notwendigkeit des Geldes bedarf keines Nachweises. Ohne Sold artet das Heer aus in eine meuternde Bande von Straßenräubern, ganz abgesehen von den Vorteilen, die man sich durch Bestechung sichern kann. Daneben fällt für den Erfolg die Erfahrung, Tüchtigkeit und der Scharfsinn des Feldherrn schwer in die Wagschale; er muß sich über Gelände, Stellung und Stärke des Feindes genau orientieren. Auch Kriegslisten sind nicht unmoralisch und ein wesentlicher Bestandteil militärischer Klugheit, nur dürfen sie nicht in Treulosigkeit, wie Übergriffen während des Waffen- stillstandes, bestehen. Bei Beendigung des Krieges (in finiendo bello) lasse man den Feind nicht wieder so zu Kräften kommen, daß er den sichern Erfolg vereitle; man treibe ihn aber auch nicht durch hartherzige, unmögliche Friedensbedingungen zum Verzweiflungskampf. Eine Niederlage muß man mit Fassung ertragen in der Hoffnung, daß die Zukunft auch wieder bessere Zeiten bringen kann (S. 762). B. Fortitudo. Der Begriff ist zu weit gefaßt, wenn man fortitudo =virtus mit Tugend im allgemeinen wiedergibt, zu eng, wenn man darunter nur kriegerischen Mannesmut versteht, denn man kann auch noch bei andern Gelegenheiten als im Felde Standhaftig- keit und Todesverachtung zeigen. Zum Wesen der Tapferkeit gehören zwei Merkmale, eine unbeugsame Seelenfestigkeit ohne Wanken allen schweren Übeln gegenüber im Bekämpfen wie Erdulden (tarn aggressu quam perpessu), und besonnenes Los- gehen auf das rechte Ziel, Ehre und Gerechtigkeit (honestas und aequitas). Zunächst also besteht die Tapferkeit nicht in Körperkraft, auch der Schwache kann bei zielbewußtem, be- harrlichem Handeln tapfer heißen (S. 765), ebensowenig aber ist sie mit der Großmäuligkeit des Bramarbas zu verwechseln; sie beugt sich nicht vor der Größe, Dauer und Wiederholung der Gefahr. Ihr Wirkungsgebiet findet sie bei den Übeln wie Tod, Schmerzen, Schande, Verlassenheit, Armut, Gefangenschaft, Verbannung u. a., die für die Zukunft Furcht, in der Gegen- wart Unlust erzeugen, das meint Gassendi mit den Ausdrücken aggressu und perpessu. Im ersten Falle rückt man dem Feinde — 29 — zu Leibe, indem man dem Übel die Spitze abbricht, im andern ringt man mit ihm auf eigenem Gebiete, indem man sich gegen seine Angriffe abzuhärten sucht; das gilt namentlich von der Disponierung der Seele den unvermeidlichen Übeln gegenüber. Zum andern darf die Tapferkeit nicht unbedacht und un- überlegt sein, sonst artet sie aus in Unbesonnenheit und Wild- heit, wird also ein Laster. Nicht der, welcher in blindem Drange und Vertrauen auf seine Körperkraft sich in die Gefahr stürzt, ist berechtigt, sich tapfer zu nennen, sondern der, wel- cher die Gefahr zwar kennt, aber sie nicht mutwillig herauf- beschwört, gegebenenfalls jedoch ihr ohne Zagen mutig die Stirn bietet; fortitudo hält also die rechte Mitte zwischen Feigheit und Waghalsigkeit (S. 766). Die Tapferkeit wäre ferner keine Tugend, wenn sie sich nicht Ehre und Billigkeit zum Ziel gesteckt hätte. Es verdient also niemand das Prädikat tapfer, der nach dem Grundsatz handelt: Gewalt geht vor Recht; die Urbilder wahrer Tapferkeit, die alten Heroen, hatten immer bei ihren Abenteuern edle und gerechte Ziele, Beglückung der notleidenden Menschheit, Schutz der Schwachen gegen Gewalt und Unrecht (S. 767). Die einzelnen Erscheinungsformen der Tapferkeit ent- sprechen natürlich ganz den Arten der Übel (genera malorum). Hier haben die Spezies der fortitudo die Aufgabe, drohenden Schmerzen vorzubeugen, vorhandene standhaft zu tragen und die Seele vor Kummer zu bewahren durch Beseitigung falscher Vorstellungen. Im allgemeinen ist ein Hauptschutz gegen alle Übel ein gutes Gewissen, das nicht bebt, sollte selbst das Weltgebäude zusammenkrachen, ein guter Blick in die Zukunft, der auf das Kommende gefaßt macht, und kein allzu festes Vertrauen auf die Beständigkeit der guten Tage (S. 768). Die übliche Einteilung der Übel in allgemeine und beson- dere (publica und privata mala) ist nicht aufrechtzuerhalten; denn die Übel, welche die Allgemeinheit angehen, wie Krieg, Tyrannei, Seuchen, Teuerung usw., sind für uns nur Übel, weil sie uns direkt oder indirekt berühren und Unlust erwecken. Ein Krieg fern in der Türkei läßt uns kalt, bei größerer Nähe zieht er unsere Aufmerksamkeit schon mehr auf sich, wütet das Übel im eigenen Land, so empfinden wir es als solches, weil wir am eigenen Leibe davon betroffen werden. Vom Un- heil des Vaterlandes erholen wir uns viel schneller wieder, wenn wir persönlich mit unsern Angehörigen nicht so arg heimgesucht werden. Also ist das malum publicum nur malum, sofern es für uns malum privatum ist. Der Gedanke hilft solche Trübsal noch am besten tragen, daß sie Gott gesandt — 30 — und seine bestimmte Absicht damit gehabt haben muß, der Weise aber hat wenig Verluste zu beklagen, wenn er an Leib und Seele gesund blieb (S. 769). Gassendi läßt nunmehr eine Aufführung und Behandlung der persönlichen Übel folgen, mit denen sich die fortitudo aus- einanderzusetzen hat. Verbannung (exsilium) ist nur ein eingebildetes Übel, in Wirklichkeit für viele eine willkommene Ortsveränderung; der Weise nimmt ja alles Wertvolle, seinen Geist und seine Tugenden, mit sich; sie machen sein Glück aus, schaffen ihm neue Freunde und lassen ihn überall eine Heimat finden. Der Weise ist kein pedantischer Spießbürger, sondern ein weit- herziger Weltbürger; allenthalben ist die eine Natur, die eine Sternenwelt, das eine Universum. Verbannung braucht auch nicht zu entehren, in der Fremde wohnt vielfach das Glück; große Geister haben oft erst fern vom heimischen Herde ihre Bedeutung gewonnen. Bedenklicher erscheint schon der Kerker (carcer). Aber dem Weisen kann auch er nichts anhaben; seine Kraft liegt im Geist, der sich nicht in Fesseln schlagen läßt. Mit ihm kann er die ganze Welt durchqueren und in die fernste Vergangenheit tauchen. Je mehr der Leib gebunden ist, desto freier kann die Seele ihre Schwingen entfalten, um so intensiver der Kon- templation sich weihen. Also auch das Übel der Haft beruht auf Einbildung. Viele verzichten freiwillig auf Freiheit, um sich ungestört den Wissenschaften widmen zu können, mancher Beruf fesselt nicht bloß an das Haus, sondern sogar an eine bestimmte Stelle, einen Stuhl. Im Kloster verzichtet man fürs ganze Leben auf die Freiheit. Also ist Freiheitsentziehung an sich nicht ein Übel. Dasselbe gilt von der Knechtschaft (ser- vitus), sie trifft nur den Leib, die Seele des Weisen ist zu stark, als daß sie sich ins Joch zwängen ließ. Auf alle Situa- tionen gefaßt, versteht sich der Philosoph auch in dieses Geschick willig zu finden und seine Lage sich sogar angenehm zu ge- stalten. Die Arbeit verrichtet er ohne Murren, vielfach hat er Gelegenheit, Fähigkeiten zu entwickeln, die sonst vielleicht ver- kümmert wären. Schließlich kann er in der Knechtschaft noch zu hohen Ehren kommen, so daß er Gott für solche Führung noch preisen muß. Unverschuldete Schmach und Entehrung (infamia, igno- minia) bereiten dem Weisen noch weniger Kummer. Bestehen sie im Ausschluß von einem Amte, so wird er die Muße nur als Segen für seine Studien begrüßen. Üble Nachreden in der Menge ohne Berechtigung rühren ihn nicht; er kennt ja die — 31 — Unbeständigkeit der Volksgunst. Mit reinem Gewissen ignoriert er alle Schmähungen und Intriguen, er ist über sie erhaben wie der Mond über das Bellen des Köters. Nur so erhält er sich sein Gleichgewicht und Gesundheit der Seele. Auch den Verlust (iactura) an Kindern, Freunden und allem, was sonst teuer gilt, hilft die fortitudo verwinden. Sie ruft dem Weisen zu: alles Jammern hält den Lauf des Schicksals nicht auf; dein Wehklagen ist nur Egoismus; du denkst nur an dich, denn deine Lieben sind in sicherm Hafen und sehnen sich nicht mehr nach des Lebens Lust und Leid (S. 770 u. 771). Denke zurück an die Zeit, wo du die Verlorenen noch nicht hattest, da kamst du auch ohne sie aus ; sei nicht undankbar, daß sie dir der Himmel so lange ließ. Suche dir in mutiger Fassung Ersatz für den Verlust, indem du Werke schaffst, die der Vergänglichkeit nicht unterworfen sind. Ein verlorener Freund läßt sich ersetzen ; Armut ist kein Übel, man kann mit wenig gut und glücklich leben; schaue auf die, welche noch w T eniger haben, sie sind in ihrer Dürftigkeit oft heiterer als der Reiche in seiner Sorge und Unruhe. Viele sagen sich freiwillig vom Reichtum los, um sich ohne alle Last in ungestörter Wonne und Ruhe der Philosophie oder beschaulicher P'römmigkeit hingeben zu können. Vor die schwerste Aufgabe aber findet sich die Tapferkeit gestellt bei der Überwindung der beiden Hauptübel, des Schmerzes und Todes. Der Schmerz beruht zum Unterschied von den übrigen Übeln nicht auf Einbildung. Hier wirkt die Tapferkeit in der Form geduldigen Ertragens (S. 772). Der Weise sieht, daß diese mala menschlich bedingt sind und Ungeduld sie nur noch steigern würde. Je größer die Ausdauer, um so süßer die Frucht. Hoher Schmerz läßt entweder bald nach, oder man gewöhnt sich an ihn; somit verliert er an Unlust. Löst sich der Schmerz, so erzeugt die Genesung um so süßere Lust; ist man unheilbar krank, so hat das Leben wenig Wert mehr, und man gewöhnt sich an den Gedanken des Sterbens, der Tod kommt als Erlöser. Ist hingegen die Seele von Kummer be- fallen, so besteht die Aufgabe der Tapferkeit darin, die ihn verursachenden falschen Vorstellungen und Wahnbilder zu' be- seitigen; dann verschwindet das Übel von selbst. Mit dem Wesen des Todes hat sich Gassendi schon früher auseinander- gesetzt, die rechte Einsicht in seine Natur nimmt auch ihm seinen Stachel, so daß er für den Weisen nichts Schreckliches mehr hat (S. 773). 32 C. Temperantia. Diese bei den Griechen so gerühmte oaxpQoovvr) wird bald weiter gefaßt als Tugend überhaupt, bald enger als das rechte Maßhalten in den Lüsten des Geschmackes und Gefühls, also gleichbedeutend mit Nüchternheit (sobrietas) und Keuschheit (castitas). Gassendi erweitert den Begriff, indem er temperantia definiert als das verständige Maßhalten in allen Begierden, die das decorum überschreiten (temperantia comparata est adversum omnem cupiditatem, quae praeter decorum effertur). Wenn sich also auch temperantia keineswegs bloß auf sobrietas und castitas beschränkt, so behandelt Gassendi doch ausführlicher diese beiden Tugenden (S. 774 u. 775). Er verweist auf seine Aus- führungen über den Wert einer einfachen Lebensweise und stellt die unvernünftigen Tiere dem Menschen hin als Vorbilder im Genuß der aus den Sinnen entspringenden Lüste. Das ist nicht paradox. Die Lust nach Speise und Trank und nach der Befriedigung des Geschlechtstriebes ist Naturanlage und dient zur Erhaltung des Einzelwesens und der Art. Auf beiden Ge- bieten ist das Tier viel maßvoller als der Mensch. Darum kann es dem Menschen wohl als Vorbild dienen, wenn tugendhaft leben soviel bedeutet wie naturgemäß leben. Aristoteles trifft die goldene Mitte, er versteht unter einem mäßigen Mann nicht einen, der sich aller Lust enthält, das wäre eine naturwidrige Tugend, sondern einen Menschen, der nur die unziemlichen, d. h. unnatürlichen, unerlaubten, gesetzwidrigen, gesundheitsschäd- lichen Lüste meidet, die den guten Ruf untergraben und das Vermögen zerrütten. Im einzelnen bewährt sich die Nüchternheit darin, daß sie beim Genuß der Speisen und Getränke verhütet, quantitativ und qualitativ das rechte Maß zu überschreiten. Die günstigen Folgen beobachtet man am besten bei den Landleuten, die natürlich und einfach leben, sie erfreuen sich der besten Ge- sundheit. Zwar sind vegetarische Speisen am vernünftigsten, aber das naturwidrige Fleischessen ist nun einmal nicht mehr zu vermeiden, darum bereite man Fleischspeisen wenigstens so einfach wie möglich zu (S. 776). Die Keuschheit kämpft gegen den stärksten Trieb im Menschen, dem fast jeder unterliegt; gleichwohl gibt es Schutz- mittel für solche, die in Reinheit den Zölibat halten oder ver- heiratet in Mäßigkeit leben wollen. Man beobachte die strengste Nüchternheit nach dem alten Sprichwort : sine Cerere et Libero Venerem frigere. Übermäßigkeit in Speise und Trank entwickelt allzustarke Samenbildung, die heißen, sinnlichen Trieb erzeugt. — 33 — Man suche sich eine ernste Beschäftigung, die alle Gedanken vom Geschlechtlichen ablenkt, und vermeide jede sexuelle Er- regung durch Wort, Blick und Berührung. Endlich gewöhne man sich an Widerstand und Überwindung des Triebes, denn ein Frönen dem Triebe macht immer schlaffer und willenloser. Der Kampf ist zwar ein bitter ernster. Aber selbst wenn die Lust bereits zum Hang geworden ist, kann man sich durch Entwöhnung noch frei machen (S. 777). Man halte sich nur als Kampf preis vor Augen die Lust des körperlichen und geistigen Wohlbefindens statt eines düstern Sinnes, siechen Leibes und zerrütteter Ver- mögensverhältnisse (S. 778). Von anderen Tugenden, die unter die temperantia fallen, sind zu nennen : Die Sanftmut (mansuetudo), sie betätigt sich in Bekämpfung des Zornes. Abgesehen von einigen Situationen, in denen auch beim Weisen ein gerechtes Aufwallen zu entschuldigen ist, soll man die äjiäfteia sapientis vorziehen. Der Zorn ist seinem Wesen nach eine Störung der Seelenruhe, also ein Übel und erweckt Unlust. Das Gesicht verzerrt sich, der Geist wird wirr und ohnmächtig ; mit Recht sagt man, juaivo/ued'a ndvrsg önörav ögytCcojue^a; besonnene Überlegung kommt zu demselben Ziele. Sanftmut macht zudem den Menschen liebenswert; den Un- versöhnlichen plagt der Zorn mit Unruhe, seine Kräfte werden erschöpft ; oft wird er beim Versuch der Rache in noch größeres Unglück gestürzt. Von diesem Gesichtspunkt aus bekämpft Gassendi den Zweikampf (singulare certamen) wegen seines vielfach unbefriedigenden Ausgangs als caecitas maxima hominum nostrorum (S. 779). Im Unterschied von der mansuetudo, die sich gegen alle wendet, erstreckt sich die Milde (dementia) nur auf den Geringern (inferior). Sie zeugt von Edelmut und ist angebracht bei allen, die wegen ihres Irrens um Verzeihung bitten; insonderheit ziert sie den Herrscher. Oft ist eiserne Strenge am Platze, wo man aber seiner Würde und Sicherheit keinen Eintrag tut, ist Milde nicht nur ruhmvoll, sondern auch nützlich. Milde Herrscher leuchten durch die Jahrhunderte, während wir uns mit Abscheu wenden von solchen, deren Wahlspruch ist: oderint dum metuant. Eng verwandt mit der dementia ist das Erbarmen (misericordia), das Mitgefühl mit einem Menschen, dessen Elend zu Schonung und Gnade stimmt. Der Anblick des Elends versetzt uns zwar in Unlust, diese schein- bare Störung der tranquillitas animi ist aber nicht schlechthin zu verwerfen, wie es die Stoiker taten; es ist natürlich und menschlich, am Schmerze anderer lindernd teilzunehmen, zumal — 34 — die Bezeugung der Nächstenliebe das angenehme Lustgefühl der Pflichterfüllung erzeugt (S. 780). Endlich sei noch genannt die Bescheidenheit (modestia), sie ist dem Manne eigen, wenn er nicht jede Ehre, die er beanspruchen kann, verlangt. Der wahrhaft große und tugendhafte Mann ist demütig, wie die Ähre sich neigt, je gehaltvoller sie ist. Man verwechsle diese Tugend aber nicht mit pusillanimitas, die ihre Leistungen zu niedrig wertet; ihr Gegenteil ist das unberechtigte Renom- mieren. Auf religiösem Gebiet erscheint die modestia als Demut, humilitas, ranstvcooig ; sie wird vielfach als Schwäche verkannt, in der Heiligen Schrift aber als höchste Tugend geachtet, wenn sie sich frei hält von Heuchelei und Eitelkeit. Die Bescheiden- heit hat ein weites Wirkungsfeld, sie taucht auf überall da, wo man sich Ehren erringen kann (S. 781). In der Tugend- übung betätigt sie sich, indem sie die honestas nicht zur Schau trägt, sondern in der Stille pflegt; in der Wissenschaft steht sie der unbescheidenen und oberflächlichen Neugier entgegen. In der Redekunst ist sie die Feindin der Geschwätzigkeit, die zu ungelegener Zeit, am falschen Platze, vor ungeeigneten Hörern sich breit macht. Man kann bei einem Menschen schon aus seinem Äußern auf ihr Vorhandensein oder Fehlen schließen, aus seiner Bewegung, Haltung, aus seinem Gang und seiner Kleidung; sie wahrt die rechte Mitte zwischen geckenhafter Eleganz und bäuerischer Nachlässigkeit ; der [Bescheidene ist in seinen Bewegungen nicht hastig, aber auch nicht schleppend, in der Lebensführung einfach ; er meidet in goldener mediocritas den Vorwurf der Eitelkeit wie den Tadel der Schäbigkeit (S. 782). D. Justitia und die ihr verwandten Begriffe Recht und Gesetze (ius et leges). Die Gerechtigkeit besteht darin, jedem das Seine zu geben; somit hat sie die weiteste Ausdehnung; ist gleichsam die Basis aller Pflichten. Sie ist das xTfj/ua Ti/uicbzarov, ohne das keine menschliche Gemeinschaft bestehen kann; selbst der Räuber- hauptmann bedarf ihrer z. B. bei Teilung der Beute. Gassendi übernimmt die übliche juristische Definition : iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi (S. 783). Zu ihrem Wesen gehört demnach, daß sie auf freiem Willen beruht und nicht nur in einzelnen Taten, sondern in einem dauernden Hang, habitus, sich äußert, iusta agere kann man auch aus Zufall, ohne Wissen, aus Egoismus oder Furcht; ge- recht aber ist nur der, welcher iuste agit, d. h. aus freiem An- — 35 — trieb, aus Liebe zur Gerechtigkeit, der sich des Unrechts enthält, trotzdem er die Macht hat, es zu tun (S. 784). Die Wendung tribuendi cuique ius suum regt Gassendi an, ausführlicher einzugehen auf das Wesen und den Ursprung dieses Rechts (quidnam sit hoc ius et unde oriatur). Von den verschiedenen Bedeutungen des Worts scheint die primäre die zu sein, daß man unter ius versteht die facultas, etwas zu betreiben , besitzen , gebrauchen , genießen. Darauf deuten Wendungen hin wie sein Recht wahren, schützen, von ihm Gebrauch machen; oder auch die Übertragung, nach welcher das Gesetz Recht heißt, sofern es vorschreibt, wieviel Recht, d. h. Gewalt, Macht jemand zukommt; ferner jene Übertragung, nach der man mit „Recht" nicht nur den Richter meint (in ius rapere, vocare, ambula in ius), sondern auch das Tribunal, den Ort der Rechtsprechung; endlich die verschiedenen Unter- abteilungen von ius, z. B. Naturrecht, Völkerrecht, bürgerliches Recht, Privatrecht, öffentliches, geschriebenes, ungeschriebenes, priesterliches, militärisches Recht u. a. m. Alle diese Begriffe wollen zum Ausdruck bringen, daß ein einzelner oder eine Ge- meinschaft auf einem Gebiet ein Recht, d. h. Anspruch, Macht hat. Zugleich geht aus dem Wesen des Rechts hervor, daß ius älter ist als iustitia, da letztere eine Verletzung des Rechtes voraussetzt, die sie verhüten oder sühnen soll (S. 786). Wie ist aber dieses Recht entstanden? Ursprünglich befand sich die Menschheit in einem tierisch rohen, vertragslosen Zustand, in dem es sich nicht bequem und angenehm leben ließ; darum schlössen die Menschen Gemein- schaften nach dem natürlichen Triebe, das Übel zu fliehen, die Lust zu suchen. Gemeinschaften aber sind nur möglich durch Verträge, die mit Hilfe der Gesetze und Rechte die Menschen zusammenhalten. Der erste Vertrag bestimmte, daß ein jeder nicht auf alles, sondern nur auf ein begrenztes Gut Anspruch hätte; so entwickelte sich aus der Periode des Gemeinguts das Stadium, in welchem man das Mein und Dein unterschied. Weil ferner die Schwachen nicht aufkommen konnten gegen die Starken, so übertrug man nach gemeinsamem Überein- kommen die Strafgewalt (facultas vindicandi) des einzelnen der Gesamtheit, sie repräsentiert die höchste Machtfülle und ist also dem einzelnen Rechtsverletzer überlegen; sie bietet dem einzelnen Glied der Gemeinschaft durch Gesetze Schutz im Genuß seiner Rechte. Es wäre natürlich unbequem gewesen, bei jedem gering- fügigen Anlaß die Gesamtheit zur Entscheidung zusammentreten zu lassen, darum übertrug sie einzelnen Vertrauensmännern das Amt, in ihrem Auftrag und Sinne zu richten (S. 795). Hierin — 36 — liegen die Wurzeln aller Ämter und Würden, auch der Herrscher- gewalten. Werden Gesetze von einem Monarchen oder einer Behörde gegeben oder verändert, so liegt darin ausgesprochen, daß es geschieht mit ausdrücklicher oder stiller Genehmigung des ganzen Volkes, das durch seine Vertreter herrscht und die Absicht hat, nach seinen sich selbst gegebenen Grundsätzen zu leben, d. h. suis illis iuribus uti. Also den Vorteil und Nutzen eines ruhigen Lebensgenusses hatte die Gemeinschaft im Auge, als sie Ver- träge und Gesetze aufstellte. Konsequenterweise sind auch nur solche leges berechtigt, quae ad ipsam eandem utilitatem faciant (S. 796). Im Interesse des einzelnen liegt es, die zum gemeinsamen Nutzen aufgestellten Gesetze der Gemeinschaft nicht zu ver- letzen, denn im gemeinen Wohle liegt das seine mit eingeschlossen. So ergibt sich mit Recht als erstes Gesetz secundum naturam: quod tibi fieri non vis, ne alteri feceris. Dieser kategorische Imperativ schließt alle anderen Gebote in sich und kann als Norm des Handelns gelten in allen Lebenslagen. Aus dem Gesagten zieht Gassendi nunmehr die Konse- quenzen. Da wir nicht mehr in jenem tierischen Zustand (status purae naturae) leben, sondern in der Gesellschaft, die sich wegen des augenscheinlichen größeren Nutzens gebildet hat, so folgt, daß ein jeder nicht auf alles, sondern nur auf etwas Bestimmtes Anspruch (ius) hat; ebenso kann bei fester Begrenzung von Mein und Dein ein jeder dieses sein Recht ungestört ausüben. Eine Autorität verhütet durch Bestrafung die Eingriffe in fremde Rechte, den Rückfall in jenen status ferinus. Somit repräsentiert die Obrigkeit die öffentliche und gemeinsame Gerechtigkeit als Schützerin jedes einzelnen Rechts. Streng genommen ist solche Gerechtigkeit nur stellvertretend (subsidiaria und substituta) für die Gerechtigkeit, die in jedem Individuum besonders leben muß. Wäre sie in allen ausgebildet, d. h. ließe jeder seinen Nächsten so sein Recht ungestört ge- nießen, wie er im Genuß des seinen sich nicht beeinträchtigt wissen möchte, so wäre jene strafende und schützende öffent- liche Gerechtigkeit überflüssig. Dem ist aber in der Wirklichkeit nicht so. Der Weise und wahrhaft Gute pflegt natürlich die Gerechtigkeit aus reiner Liebe zum Guten und nicht aus Furcht vor Strafe. Die Bestrafung der Übeltäter bezweckt Schutz der Rechtschaffnen, Sühne und Abschreckung (S. 801 u. 802). Unkenntnis der Gebote ist keine Entschuldigung für Über- tretungen. Wer sein Recht genau kennt, weiß damit zugleich, was nicht in seinen Bereich fällt; Natur, Gesetz, Sitte begrenzen — 37 — jedem genau seine Machtsphäre, ignorantia iuris neminem excusat. In zweifelhaften Fällen kann man sich bei weisen Männern und juristischen Fachleuten Aufklärung suchen (S. 803). Die Hauptsache bleibt die voluntas, der freie Wille, alles zu meiden, was gegen den Zweck der Gemeinschaft verstößt; das ist die stille Voraussetzung, unter der man in der Gesell- schaft geduldet ist. Jeder muß erkennen, daß sein eigner Nutzen zusammenfällt mit dem Wohl der Gesamtheit. Wahre utilitas aber ist nur vereinbar mit der honestas; von Gütern, die er- worben werden unter Verlust des guten Gewissens, der Ehre, des Seelenfriedens, hat man nie wahren Genuß (S. 804). Aller- dings gibt es Zeiten und Situationen, wo der auf Kosten des Nächsten erworbene Nutzen nicht mit Natur, Ehre, Gerechtigkeit im Widerspruch steht. Oft muß man aber auch den eigenen Nutzen zurücktreten lassen hinter die Interessen der Freunde, Eltern, des Vaterlandes. Kollidieren die Interessen der Freunde mit den eigenen, so gehen jene vor. Nur darf die Ehre und Gerechtigkeit nicht verletzt werden, sonst artet Freundschaft aus in Verschwörung. Ist das Vaterland durch Anschläge der Freunde oder selbst der Eltern bedroht, so hat man rücksichtslos Anzeige zu erstatten ; die Ehre geht über alle Rücksichten ; sie steht höher sogar als das Vaterland, in dessen Dienst unlautere Mittel zu verwerfen sind nach dem alten Grundsatz: quod. honestum non esset, minime utile esse posse (S. 804). E. Annexae iustiae virtutes, religio, pietas, amieitia, gratitudo. Die Verehrung Gottes, d. h. religio, ist erste Pflicht des Menschen. Gott gebührt cultus wegen seiner Erhabenheit und seiner Güte gegen die Welt; daher seine Benennung als maximus optimus. Gassendi will nicht den apologetischen Beweis von der Wahrheit des Christentums führen, Gottes Existenz, die göttliche Vorsehung und alle seine Eigenschaften werden vor- ausgesetzt, sie bilden eine doctrina specialis für sich. Hier kommen allgemeinere Gesichtspunkte in Betracht, Berührungs- punkte aller Religionen, die sich ergeben aus der lux naturalis der Vernunft (im Gegensatz zur supernaturalis lux der gött- lichen Offenbarung in Schrift und Tradition des christlichen Glaubens). Solche allgemeinere Übereinstimmungsmomente fanden auch die Kirchenväter vor, nur haben sie sie noch mit christlichem Gehalt überzogen und damit die heidnische Ethik und Religion ergänzt. Solche allgemeingültige Stimmen der — 38 — Natur fordern auf zur Gottes Verehrung; sie sagen dem Menschen: Gott verlangt nichts als Unschuld (S. 808). Die gottgefälligen Opfer sind die Tugenden, die im innersten Herzen entspringen müssen; auf diesem Altare allein soll geopfert werden ohne Stolz und Selbstlob. Der Mensch wende sich an Gottes Gnade und bitte um Vergebung, er lasse es aber auch an rechter Danksagung nicht fehlen, daheim im Kämmerlein wie im Tempel. Man bitte um frommen Sinn, Gesundheit des Leibes und der Seele (S. 810). Nur so bannt man die bösen Lüste, wenn man Gott um Güter bittet, die das Licht nicht zu scheuen brauchen. Man darf nicht denken, der Gottlose erreicht nichts mit seinem Gebet, dem Frommen gibt Gott Heil auch ohne Bitte, also ist das Gebet überflüssig. Nein im Gegenteil, Gott will angerufen sein, um den Menschen seine Güte fühlen zu lassen (S. 811). Die Pietät (pietas), der Religion verwandt, ist das rechte Verhalten gegen die Eltern. Es ist ganz secundum naturam, daß wir die, welche uns das Leben schenkten und uns lieben, wieder lieben. Das erfüllt zugleich mit einer seligen Lust. Nichts ist wonniger für einen Sohn, als wenn seine Eltern stolz auf ihn sein dürfen. Alle Kindespflichten faßt Gassendi zu- sammen in die Mahnung, man soll die Eltern als Stellvertreter Gottes ehren und die Pietät auch äußerlich zum Ausdruck bringen. Freudiger Gehorsam ist schönster Schmuck des Kindes; seine Verweigerung ist nur statthaft, wenn der Eltern Forde- rungen kollidieren mit den Pflichten gegen Gott, Vaterland, Recht und Billigkeit. In wichtigen Entscheidungen (z. B. Ver- heiratung) hole man den Rat der Eltern ein. Abstoßende und unangenehme Eigentümlichkeiten derselben trage man mit Geduld und suche sie andern gegenüber zu mildern und ent- schuldigen. Im Alter vergelte man Vater und Mutter durch liebevolle Pflege die erfahrene Liebe (S. 812). — Auch die Gesinnung gegen das Vaterland läßt sich mit pietas bezeichnen, weil patria unsre gemeinsame Mutter ist ; es können Fälle ein- treten, wo das Vaterland größere Rücksichten beanspruchen darf als das eigene Blut. Mit pietas verwandt ist observantia, die Ehrerbietung gegen solche, die uns an Würde, Weisheit und Alter überragen. Wer in einem hohen Amte steht, seine Kräfte im Dienste der Gesamt- heit aufzehrt, verdient Dank, Ehre und Auszeichnung. Solche ideelle Güter müssen existieren, sonst würde sich niemand gern den aufreibenden Pflichten der Staatsverwaltung z. B. unter- ziehen. Ferner muß das Alter an sich ohne Rücksicht auf Standesunterschiede Ehre und Achtung genießen. Durch die in Erfahrung gesammelte Weisheit sorgt es für die Jugend. Ein — 39 — jeder hofft zudem, selbst einmal im Alter geachtet zu werden, darum sei er selbst nicht unehrerbietig. Besonders verehrungs- würdig aber ist ein Greis, der nicht nur den Schmuck des grauen Haars, sondern auch Rat und Klugheit sein nennen kann (S. 813). ' Die Freundschaft (amicitia) ist das wertvollste aller Güter, die dem Weisen das Leben angenehm gestalten. Am glück- lichsten fühlt er sich, wenn er beim Philosophieren einem Freund von erprobter Lauterkeit sagen kann: juövco k'o/uev, wir können die Wahrheit ohne Eifersucht erforschen. Die Geschichte kennt manch herrlichen Freundschaftsbund (S. 814). Man hat mit Recht die Freundschaft mit der Gerechtigkeit in Beziehung gesetzt, weil sie eine Art Gleichheit ist und auch so (als aequalitas) bezeichnet werden kann. Bei wahrer Freund- schaft besteht die denkbar größte Harmonie in Gesinnung, Neigung, Anschauung; amicitiae naß' VTiegoxyr, d. h. solche, in denen die Stellung der Freunde wesentlich verschieden ist, sind entweder keine eigentlichen Freundschaften (z. B. das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, Vater und Sohn), oder es muß durch eine größere virtus auf Seiten des niedriger Stehenden ein Aus- gleich geschaffen werden. Am idealsten aber ist es, wenn die Tugend bei beiden in so hohem Maße im Vordergrund steht, daß sie alle äußern Unterschiede zurückdrängt. Freundschaften geschlossen aus Ehrgeiz, Nützlichkeitsrücksichten, Genußsucht und andern Motiven sind nur xa&' ö/uoior^Ta Freundschaften. Nur Ehrenmänner können um gemeinsamer Tugendübung wallen solch intimen Bund schließen, er ist allein dauerhaft und wahr, denn er ruht auf festem Grunde. Weil ein Ehrenmann nicht sündigt und es bei seinem Freunde auch nicht dazu kommen läßt, so wird sie auch stets die rechte Wahrheitsliebe und Offenheit verbinden. Letztere ist oft bitter, aber schwache Nachsicht ist noch verderblicher; nur muß ein unvermeidlicher Vorhalt ohne Gehässigkeit und Härte geschehen; Zustimmung zu den Fehlern des Freundes aber ist unmoralisch und un- würdig ; es gilt in erster Linie , die honestas hochzuhalten (S. 815). Die Dankbarkeit (gratitudo) setzt Wohltätigkeit und Frei- gebigkeit voraus (beneficentia und liberalitas). Letztere darf weder dem Empfänger noch dem Spender schaden (S. 817), seine Leistungsfähigkeit nicht überschreiten, sonst erzeugt sie Unlust. Sie muß Bescheidenheit und Würdigkeit berücksichtigen und nicht erzwungen, zufällig, unfreiwillig sein etwa aus dem Grunde, einen lästigen Bittsteller los zu werden, sonst erweckt sie im Herzen des Empfängers nicht das Gefühl der Dankbarkeit. — 40 — Diese gratitudo umspannt alle im letzten Abschnitt behandelten Tugenden als deren Mutter, pietas z. B. ist nichts anderes als gratitudo erga parentes, religio — erga Deum etc. Gratitudo ist also unsre erste Pflicht, ihr Fehlen die größte Ungerechtigkeit (S. 818). Selbst wenn der Spender keine Kompensation fordert, so wird der Empfänger damit nicht von der Pflicht entbunden, sich erkenntlich zu zeigen, und wäre es nur möglich in einer dankbaren Gesinnung. Ist nun eine Wohltat zu bemessen nach dem Nutzen, den der Empfänger aus ihr zieht, oder nach der Gesinnung des Spenders? Bei Freundschaften, die aus Nützlichkeitsrücksichten geschlossen wurden, gilt das erste. Gründet sich ein Bund aber auf virtus und honestas, so gibt die Gesinnung des Spenders den Ausschlag für die Bewertung der Wohltat. Ist sie mit Liebe erfolgt, so steht sie hoch, mag die Gabe klein oder groß sein. Die Strafe für Undankbarkeit kann natürlich keine juristische sein, denn auf diesem Gebiet ist eine Schätzung sehr schwer. Darum bestraft man den Pflichtver- gessenen mit Abscheu und überläßt Gott die Ahndung seines Vergehens (S. 819). Eine gerichtliche Bestrafung würde außer- dem die Wohltat zu einer Anleihe herabdrücken, sie völlig ihres moralischen Gehaltes entkleiden. Dank ist Ehrensache, er läßt sich nicht erzwingen, seine Unterlassung bestraft sich von selbst durch deren Folgen bei Gott und den Menschen. Den Abschluß der Pflichten- und Tugendlehre Gassendis bildet eine Zusammenfassung aller Pflichten gegen den Nächsten in einem Zitat aus Seneca (ep. 95, 52) . . . omne hoc, quod vides, quo divina ac humana conclusa sunt, unum est: membra sumus corporis magni; natura nos cognatos edidit, cum ex iisdem et in eadem nos gigneret. Haec nobis amorem indidit mutuum et sociabiles fecit. lila aequum iustumque composuit, ex illius constitutione miserius est nocere quam laedi et illius imperio paratae sunt ad iuvandum manus. Iste versus et in pectore et in ore sit: homo sum, humani nihil a me alienum puto. 2 ) x ) Überhaupt zeigt Gassendi in seiner Tugendlehre eine auffallende Vor- liebe für Seneca, so daß eine starke Abhängigkeit von diesem Philosophen unschwer zu erkennen ist. 41 — Dritter Abschnitt. Über Willensfreiheit, Glück, Schicksal und Weissagung (libertas, fortuna, fatum, divinatio). Der letzte Teil seiner Ethik, in welchem sich G-assendi fast ausschließlich auf das Referieren beschränkt, zeigt überall das Bestreben, die Willensfreiheit zu sichern und sie in Einklang zu bringen mit den Begriffen Zufall, Schicksal, Divinations- vermögen. Unter libertas ist nicht körperliche, sondern seelische Freiheit zu verstehen, die durch keinen äußeren Zwang sich beeinflussen läßt, i£ovoia, xb itjovoiov, avregovotov, quasi plena atque integra quidpiam agendi facultas, bei den Theologen in der Regel mit liberum arbitrium wiedergegeben, also Willensfreiheit in theologischer wie philo- sophischer Bedeutung (S. 821). Sie wird von Gassendi unbedingt für den Menschen beansprucht. Die Wurzel des Willensaktes ruht im Intellekt. Liegen z. B. mehrere Objekte zur Wahl vor, so tritt zuerst die Vernunft (ratio) in Aktion ; sie gruppiert nach der Qualität; dann folgt die functio appetitus, auch voluntas genannt, sie erwählt unter den Objekten das durch die ratio als bestes bezeichnete. Solche electio setzt immer eine in- diff erentia voraus ; denn wäre der Wille zur Wahl eines einzigen Objektes determiniert, so könnte von liberum arbitrium keine Rede sein. Bei dem engen Verhältnis von Intellekt und Willen ist es nicht verwunderlich, daß jede Willensänderung zurück- zuführen ist auf eine inflexio intellectus, der die Urteile über die bona und mala fällt. Die voluntas gleicht der Zunge an der Wage, deren Schalen der Intellekt mit den momenta veritatis belastet, wo die schwerwiegenderen sind, da neigt sich die Zunge hin. Die vielen Schwankungen erklären sich daher, daß die momenta veritatis hier und dort oft gleich erscheinen. Weil der Intellekt nun geleitet wird durch den Eindruck des Wahren, species veri ipsa, und solcher Schein oft trügt, so kann er zuweilen ein absolut wahres Urteil fallen lassen und sich ein neues bilden, das weniger zutreffend oder absolut falsch ist (S. 822 f.). Dementsprechend fällt dann auch die Willens- entscheidung aus. Solche inconstantia intellectus wie voluntatis läßt sich in dieser Welt nicht heben. Da im letzten Grunde der Mensch in seinem Wollen durch den von einer Sache aus- gehenden Schein geleitet wird und dieser oft irreführt, d. h. eine schlechte Sache in edlem Lichte erscheinen läßt, so kommt Gassendi zu der von seinem Standpunkt aus ganz logischen Pfeiffer. 4 — 42 — Konsequenz, daß jede böse Entscheidung aus Unwissenheit, Si äyvoiav erfolgt, also omnis peccans ignorans est (S. 825). Da- mit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die ignorantia von jeglicher Verantwortung entbindet; meist besteht sie in einer Trübung der Urteilsfähigkeit durch irgendwelche selbstver- schuldeten Affekte (Alkohol und Völlerei mit ihren Folgen). Eine Ausnahme machen selbstverständlich die durch unglücklichen Zufall oder erbliche Belastung erhaltenen Gebrechen, die hier auszuschalten sind. Selbst der von einer Leidenschaft erfaßte Mensch ist noch Herr seiner Handlungen, er kann noch sein liberum arbitrium betätigen. Gar mancher läßt sich durch Ein- fluß einer maßgebenden Persönlichkeit oder Furcht vor Strafen von einer unrechten Tat abhalten ; viele können sich sogar noch mitten in der Glut einer Leidenschaft ermannen, weil sie zu edel sind, sich von einem Affekt knechten zu lassen. So oft wir sagen können „video meliora proboque", ist es klar, daß die Handlung überlegt ist und wir darum Herr über sie sind, also nicht ignorantia als Entlastungsgrund vorschieben dürfen (S. 826). Die fortuna, der Gegensatz des fatum, von den ältesten Griechen nicht ge- kannt, die alles Geschehen auf ein unmittelbares Eingreifen der Götter zurückführten (Homer), ist am besten mit Zufall wiederzugeben und zu beschreiben als das Zusammenwirken (concursus) mannigfacher Ursachen, das ohne gegenseitige Ver- einbarung der Urheber erfolgt, sodaß also ein eventus seu effectus fortuitus eintritt (S. 827). Die fortuna z. B. beim Fund eines Schatzes im Acker ist der concursus der Verbergung und der Ausgrabung; beide geschahen vielleicht sine mutuo consilio, der Fund ist also fortuitus zu nennen. Selbst wenn den Schatz jemand vergraben hätte mit der Absicht, daß ihn ein anderer finden sollte, würde der Effekt noch fortuna oder eventus fortuitus zu nennen sein, dann natürlich nur in Hinblick auf den Schatzgräber, der von der Eingrabung keine Ahnung hatte (S. 828). Schließlich geht Gassendi noch auf den Begriff fatum ein, von den Philosophen verschieden gefaßt, bald als res divina, als die ewige ratio, die alles seit ewigen Zeiten angeordnet hat, deren Ratschluß die Götter selbst unterworfen sind. Das fatum in diesem Sinne ist unvereinbar mit liberum arbitrium, für das in jener strengen necessitas beim fatum kein Spielraum bleibt; jede Verantwortung beim Handeln fällt weg; jedes Gebet ist überflüssig (S. 830) ; die Begriffe virtus und vitium werden leerer — 43 — Schall, sie setzen Freiheit voraus. Andere verstehen unter fatum eine res mere naturalis und kein ewiges decretum, sondern die Kette von natürlichen Ursachen, deren Anfangsglied nicht in Gott zu liegen braucht, den Kausalzusammenhang (S. 832). Die necessitas ist bei dieser Betrachtungsweise keine absolute (in- evitabilis) (S. 833). Gassendi stellt sich auf den prinzipiellen Standpunkt, daß jede Auffassung des fatum auszuschalten ist, die sich nicht verträgt mit den Begriffen der göttlichen Schöpfung und Vorsehung (creatio rerum und Providentia divina) und mit der libertas im Menschen. Somit kommt er zur Auffassung Augustins (civ. 5, 8): fatum ist die Tätigkeit Gottes, das decretum voluntatis divinae, außer dem überhaupt nichts geschieht; fortuna aber ist der concursus oder eventus causarum, der für die Menschen unvorhergesehen (improvisus) erfolgt, von Gott jedoch vorhergesehen und der series causarum (= fatum) eingereiht wird. Somit stehen beide Begriffe nicht in innerem Widerspruch. Ein Fürst z. B. schickt zwei Boten, die voneinander keine Ahnung haben, auf verschiedenen Wegen ; daß sie sich am be- stimmten Orte, zur beabsichtigten Zeit treffen, weiß der Fürst, für die Boten geschieht es zufällig. Ebenso hat Gott die Ge- schicke der Menschen so disponiert, daß sie vermöge seiner Allmacht und Allwissenheit abgeschlossen als fatum vor ihm liegen, während für den Menschen jedes Geschick ohne sein Ahnen (also als fortuna) eintrifft (S. 840). In größere Schwierigkeit gerät Gassendi bei dem Versuch, den Begriff fatum, der in Beziehung auf den Menschen sich mit praedestinatio deckt, in Einklang zu bringen mit dem liberum arbitrium. Es konnte ihm natürlich nicht gelingen, diesem Problem „Prädestination und Willensfreiheit" eine befriedigende Lösung zu geben; er verliert sich ohne alle Originalität der Gedanken in spitzfindige Spekulationen älterer, scholastischer Theologen. Aus allen seinen Argumentationen tritt der Wunsch klar zutage, die Willensfreiheit zu retten (S. 841). Von dem gleichen Gesichts- punkt läßt er sich leiten bei seinen Erörterungen über divinatio seu praesensio rerum futurarum. Das Vorausschauen in die Zukunft und ihre Verkündigung vertragen sich trefflich mit der Willensfreiheit des Menschen, und unverbrüchlich bleibt die Wahrheit dessen bestehen, was die von Gott inspirierten Propheten geweissagt haben. Um so unerbittlicher aber übt Gassendi Kritik an dem Divinations- vermögen der Heiden (S. 847). Dabei muß er auf ein anderes Gebiet übergreifen, auf die Lehre von den Dämonen, ad quos illa (divinatio) est solita referri. Die Existenz von Mittelwesen 4* — 44 — zwischen Gott und Mensch setzt er voraus, daemones im weitesten Sinn verstanden nimmt ja die Heilige Schrift an (angeli als gute Engel, praevaricati, satanae, diaboli usw. als gottfeindliche Mächte). Sie stehen als dienstbare Geister im Auftrage Gottes, einzelne Menschen oder auch ganze Völker zu beschirmen (S. 849). Auch die cacodaemones duldet Gott, den Frommen in seinem Glauben zu prüfen, den Gottlosen zu be- strafen. Die Sünden sind Folgen ihrer Lockungen; ihnen soll der Mensch durch Selbstbeherrschung jeglichen Angriffspunkt entziehen (temperantia fomitem vitii subducare, qui si a nobis abfuerit, frustra Daemon facem supponat) (S. 852). Daß Menschen von solchen Dämonen besessen waren, bestätigen die Exorzismen an den abreptitii in der Heiligen Schrift. Die heidnischen Be- richte aber über Genienwesen, Dämonen, Geister und Hexen wollen alle gründlich geprüft sein, ebenso wie die durch Ver- mittlung der Dämonen erwirkte divinatio. Gassendi bezweifelt jeden positiven Erfolg der heidnischen Mantik. Die scheinbaren Effekte beruhen auf Selbsttäuschung, schwärmerischer Erregung (das dai/bioviov des Sokrates und der genius des Brutus) oder offenem Betrug. Die heidnische Weissagung kann den Wahr- heitsbeweis nicht antreten. Zudem widerspricht ihr die gött- liche Providentia; wenn Gott den Schleier der Zukunft lüften will, weshalb hat er ihn da überhaupt erst vorgezogen? Will man einwenden, die Erfahrung habe auch das Eintreffen so mancher Weissagung bestätigt, so lassen sich solchen reinen Zufällen gegenüber die unzählig vielen erfolglos gebliebenen Prophezeiungen ins Feld führen (S. 855). III. Das Verhältnis der Ethik Gassendis zu der epikureischen. A, Gassendis Interesse für Epikureismus. Die epikureische Schule, insonderheit die Persönlichkeit ihres Stifters, haben auf den französischen Gelehrten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Abhandlungen über den Epikureis- mus, Leben und Lehre Epikurs, Anmerkungen zum 10. Buch des Diogenes Laertius nehmen einen breiten Raum in seinen Werken ein. In seinen Schriften de vita, moribus ac doctrina Epicuri Tom. V und philosophiae Epicuri Syntagma Tom. III tritt Gassendi in beredter Apologie ein für den Vielgeschmähten und schützt seine Person und Lehre gegen ungerechtfertigte Angriffe - 45 — (impietas, malignitas, gula, venus, odium liberalium disciplinarum), ein kühnes Unterfangen für einen katholischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts. Zu wiederholten Malen verweist er in seiner Ethik auf diese Ehrenrettung Epikurs. Bei Beurteilung der heidnischen Philosophie in ihrer Bedeutung für die christliche Moral (I S. 7) hebt er hervor, wieviel Wertvolles auch die epi- kureische Lehre für das Christentum enthalte, wenn nach Aus- schaltung der Irrtümer die philosophia ita Religioni accommodata sit, ut illi non amplius suspecta sed quasi ancillans super- veniensque evaserit, wie er das bei der praefatio in vitam moresque Epicuri ausgesprochen habe (II S. 685). Bezeichnend ist auch, daß Gassendi bei Besprechung der partitio philosophiae (I S. 29) das Bedürfnis hat, sich gegen etwaige Vorwürfe epi- kureischer Anhängerschaft zu schützen: er folge nicht nur der Ansicht Epikurs, sondern berücksichtige auch, quae fuere prae- clare instituta traditaque a caeteyis (S. 30). Es könne zwar infolge seiner Vorliebe für Epikur den Anschein haben, als wolle er ihn prae caeteris arridere, at non idcirco aut probo omnia, quae illius sunt, . . . aut quae probo, non sie amplector, ut indubia certaque habeam. Solchen Eklektizismus vertritt er aber nicht in der Praxis, sondern da lehnt er sich an die epikureische Schule überall eng an. Seine Ethik trägt die Form einer Verteidigung des Epikureismus; die Methode Gassendis ist im allgemeinen recht einfach, er bringt die An- sichten der Hauptvertreter philosophischer Richtungen, rezensiert sie und entscheidet sich dann gewöhnlich für die epikurische Ansicht; seine Quellen sind aus den Zitaten, die ihm als Beleg- stellen dienen, leicht zu erkennen. Während beim Überblick über die philosophischen seetae im über prooemialis de philo- sophia die einzelnen Richtungen summarisch abgetan werden, geht er bei der seeta Epicurea ausführlicher ein auf ihre ein- zelnen Vertreter und gibt (I S. 25) eine genaue Quellenangabe. Die Kenntnis des Epikureismus verdankt er den epistolae Epicuri ad Herodotum, Pythoclem, Menoeceum, den ratae sen- tentiae (xvgtm dogai) bei Diogenes Laertius. Weiter kommen in Betracht Lucretius, de rerum natura libri sex; Cicero, de natura deorum I., de finibus L, de legibus I. Wichtig für die Kenntnis der Gewährsmänner Gassendis ist schließlich noch die kurze Bemerkung : oecurrunt postremo caeteri autores Seneca, Plutarchus, Empiricus, alii, qui multa passim ex Epicuro eiusque seetatoribus citant, quibus Epicuri doctrina illustrari possit. — 46 — B. Wesen und Zweck der Philosophie. Die Abhängigkeit Gassendis von Epikur zeigt sich schon in der Auffassung von der Aufgabe der Philosophie; sie hat den rein praktischen Zweck, dem Menschen die felicitas zu ver- mitteln (I S. 3). Dasselbe Ziel, Glückseligkeit des Menschen, schwebt auch Epikur vor, wenn er die Philosophie als Tätig- keit definiert, welche uns mittels der Rede und des Denkens zur Glückseligkeit verhilft. 1 ) Das Wissen hat nur den Zweck, veritas rerum zu vermitteln und durch Vertreibung falscher Vorstellungen dem Menschen in seiner Seelenruhe (felicitas) dienstbar zu sein. 2 ) Auch in der Einteilung der Philosophie folgt Gassendi ganz den Spuren der epikureischen Schule. Zwar findet sich schon vor Epikur die Dreiteilung der Philosophie; ihre Gliederung in Ethik, Physik und Dialektik ist der Darstellung der platonischen Doktrin bereits zugrunde zu legen (Ueberweg-Heinze a. a. 0. I S. 183), und Gassendi betont das auch ausdrücklich (I S. 26 und 28). Aber eigentümlich ist der epikureischen Philosophie die Unterordnung des theoretischen Interesses unter das prak- tische, die bis zur völligen Geringschätzung aller wissenschaft- lichen Bestrebungen fortschreitet. 3 ) Kanonik und Physik stehen ganz im Dienste der Ethik, die Kanonik selbst beschränkt sich auf die Untersuchung der Kennzeichen der Wahrheit und schrumpft so zu einer bloßen Einleitung in die übrigen Teile zusammen. 4 ) Ähnlich denkt Gassendi (I S. 28 u. 86); den beiden Hauptteilen der Philosophie hat eine pars instrumentaria voraus- zugehen;, sie ist mehr eine accessio ad physicam und trägt ihr bei Untersuchung der Wahrheit gleichsam die erleuchtende Fackel voraus (I S. 86). Die völlige Unterordnung der Physik unter die Ethik wurde schon in der Einleitung betont (I S. 128). Sie kann nicht klarer ausgedrückt sein, als wenn Gassendi den Zweck der Physiologie zusammendrängt in die Worte, sie solle tranquillitatem comparare, admirationem tollere, voluptatem consequi. Unverkennbar haben wir hier die Einwirkungen des Lukrez; 5 ) sein ganzes Werk dient ja dem gleichen Zweck (I S. 62 u. 151 ff., V S. 83 u. 1181 ff. u. ö.), und Epikur hält *) Usener, Epicurea S. 169 : rrjv xkovv aal al Jtegl ftaväzov, fir/Tiors jzgog r/fiäg f] xi, exi xs xo fii] aaxavoeiv xovg ogovg xcöv 61yr\bovcov aal xcöv smßviucöv, ova äv sigog- s8s6fie8a cpvaioloyiag; vgl. auch Usener, Epicur. Spruchsammlung 29 (Wien. Stud. X 1888). 2 ) L. Büchner, Ein antiker Freidenker, Deutsche Revue 14, 1889; Diebitseh a. a. 0. S. 11, 15; Hempel a. a, 0. S. 5; Lukrez 1 151 ff., II 646 ff., V 1181 ff., 83; VI 75 ff. u. ö.; Diog. L. 82, 85, 143; Cic. fin. I 60, 63; Usener a. a. 0. S. 257 fr. 384, nach Plut. ist Ziel des Götterglaubens bei Epikur xo fit] (poßsZodai deov dV.a Ttavoaa&ai xagaxzö/Lievog. lieh abweichender Begründung. Nahe verwandt damit ist die Bekämpfung übertriebener Todesfurcht mit dem Hinweis auf die Schmerzlosigkeit des natürlichen Sterbens bei Auflösung des irdischen Daseins (II S. 665 — 673); auch hier liegt unver- kennbar Epikur vor. 1 ) Aus der Notwendigkeit des Sterbens folgert Gassendi mit den Epikureern die Mahnung, das Dasein zu genießen, solange es geht; juhgov xov ßiov xb xaXbv ov xo xov xqovov fifjxog. Eine Steigerung der voluptas durch ihre zeitliche Ausdehnung ist nicht möglich ; der Weise erlebt durch Studium der Vergangenheit und Analogieschluß auf die Zukunft die ganze Weltentwicklung im Geiste mit; alles Geschehen bewegt sich in ewigem Kreislauf. Solche Urteile waren schon in der epikureischen Schule geläufig. 2 ) Aus der vernünftigen Würdigung der Gegenwart ergibt sich für Gassendi und die Epikureer die rechte Stellung der Zukunft gegenüber. Hält man sich an die sichern voluptates der Gegenwart und genießt man die Vergangenheit in der Erinnerung, so stellt man an die Zukunft keine zu hohen Anforderungen. Hinter solchem Urteile (II S. 675, 676) stehen unverkennbar des Lukrez' Klagen über das unstäte Hasten und Harren der Menschen, ihr Jagen nach dem Glücke, wobei sie sich dem Grabe nähern, ohne vom Leben etwas gehabt zu haben. 3 ) Im letzten Grunde hängt das Lebensglück ab von der Redu- zierung der cupiditates auf ein Minimum, die natürlichen und notwendigen; je anspruchsloser man ist, um so unabhängiger ist man ; Gassendis Unterscheidung der Begierden (II S. 676) ist nicht originell, sie wird schon von Cicero als unlogische Ein- teilung Epikurs verworfen. 4 ) Diesen Ausführungen über die Hindernisse des glücklichen Lebens und deren Überwindung schließt sich Gassendis eigent- liches, durchweg epikureisch gehaltenes System der Ethik an, bei dessen erstem Teil die Abhängigkeit vom Vortrage des Epikureers Torquatus (Cic. fin. I) schon im äußern Gedanken- gang sofort auffällt. Ausgangspunkt ist das epikureisch hedo- *) Diog. L. ep. III 125 6 ftavarog ovftev jtqos fjfiäg, ixeiSr} jzsq ozav fisv rjfiecg wfiev, 6 -&ävazog ov Jidgeoziv • ozav 8' 6 fidvazog Tiaofj, zöff" rjfieig ovx iafxiv. 133, 139; Cic. fin. 149, 60, 62; Usener a. a. 0. S. 310 frag. 497 u. 498; Lukrez III 38, 417, 976; Diebitsch a. a. 0. S. 16. 2 ) Diog. L. X 144 ovx enavq"ezou y qdovr}; 145 o äneigog yoovos tarjv e%ei jtjv r)8ovr)v xal 6 jtsjTsgaofisvog etc. ; Cic. fin. 1 63. 3 ) Lucr. HI 934— 1084, 119—13, IV 1060 ff, V24ff. u. ö.; Hempel a. a. 0. S. 13 ff. *) Cic. Tusc. V33, 93; Diog. L. X 127, 148 (Sent. 26), 149 (Sent. 29 u. 30). — 49 — nistische Prinzip : finis vitae ist die voluptas. 1 ) Das Wesen des Glücks besteht, genauer gesagt, im Besitz der voluptas und Freisein vom dolor, Lust und Unlust (aigeaig xai cpvyr}) sind also wie bei Epikur Ausgangspunkt aller Willensentscheidungen 2 ) {II S. 677, 678). Auch in dem sich anschließenden Nachweis, daß jede voluptas ipsa ein Gut, jeder dolor ein Übel sei, wandelt Gassendi in den Fußstapfen seiner epikureischen Vorbilder (II S. 695 — 698). 3 ) Erweist sich eine voluptas als malum, so liegt das nicht an der Lust ex se, sondern an den Nebenum- ständen (ex accidenti). Daraus leitet Gassendi mit den Epi- kureern die Notwendigkeit ab (II S. 697 f.) de voluptate dolori interdum posthabenda deque dolore praeeligendo. 4 ) Auf die rechte Unterscheidung und Auswahl der Lüste muß somit der Mensch es ankommen lassen; bei dieser ars dimetiendi fällt der ratio die wichtige Aufgabe zu, mit den Eventualitäten der Zukunft zu rechnen (debita succurrat consideratio et prospectio, «x qua exsistat compensationis scientia) II S. 698. Epikur nennt diese Kunst ov/ujuhgrjoig. 5 ) Bedeutungsvoller noch als die genannten Thesen ist für Gassendi der Nachweis des epi- kureischen Zentraldogmas, daß die Lust nicht nur ein Gut neben andern, sondern das höchste Gut sei (II S. 699 ff.). Auch für diese Behauptung holt er sich Argumente bei seinen epikureischen Gewährsmännern, sie bestehen in den Aus- sprüchen Epikurs, daß das Streben nach Lust allen Ge- schöpfen von Natur angeboren sei, 6 ) daß die Lust höchstes Ziel, *) Sext. Emp. Math. IX 169 Epikur nennt Philosophie ivsgysiav . . . xov evdalfiova ßiov nsgutoiovoav ; Diog. L. X 122 fisAsxäv ovv %gij ra xoiovvxa xi/y svdai/uovi'av . . . 148. 2 ) Cic. fin. 1 9, 29 ultimum bonorum . . . Epicurus in voluptate ponit, quod summum bonum esse vult, summumque malum dolorem. Diog. L. X 128 zrjv rj8ovi]v dg%Tjv xai xiXog Xiyo/XEv elvai xov /naxagtcog t,i)v, 129 . . . dno xavxtjg (fjSovrjg) xaxagyoftE&a ndorjg aigioscog xai g xävovi xä> jrd&si näv dyadov xgivovxsg; Cic. fin. I 19, 63; 7,22. 3 ) Cin. fin. I 10, 32 f. nemo ipsam voluptatem, quia voluptas sit, asper- natur; Diog. L. X 141 ovSs/nia yöovi] xa& iavzö xaxöv' dlld xä xivcöv fjdovcöv Tioirjxtxa nokkajiXaolovg ejiKpegsi xag 6/J.?jasig xojv f)8ovä>v; 129 Jiäaa f)8ovr) dyaßov. 4 ) Cic. fin. 110,321; Diog. L. X 129 ov näaav f\bovi]v aigovfis&a, d)X eaxiv oxe jioXXag rjdovdg vjtegßaivofisv, oxav jiXeXov fjfiiv xo övoxsgkg £% xovxcov mrjxai • xai nolXag dkyrjddvag rjSovwv xgecxxovg vofii£ofisv, eneidäv /aei'Cov fjfA.iv fjoovrj TiagaxoXovftfj etc. fi ) Diog. L. X 130 xfj fihxoi ovfXfiexgfjOEi . . . xavxa Jidvxa xgivsiv xa&tjxEi; Sent. 18, 19 xaxaiiEzgsTv xq> koyiaficö; Cic. fin. 1 10, 33 tenetur a sapiente di- lectus, ut aut reiciendis voluptatibus maiores alias consequatur aut per- ferendis doloribus asperiores repellat. 6 ) Diog. L. X 34 nafrr) 8k Xsyovoiv sivat 8vo f/Sovijv xai dkyrjdova loxd/nsva TiEgl Tiäv Q&ov • xai xr\v fisv olxsTov, xr\v ds d).X6xgtov ■ dt' c5v xgivso&ai xäg aigsoEtg xai qpvydg; 129 xavxrjv (fjöovqv) ydg dya&ov ngätxov xai ovyysvixöv — 50 — letzter Zweck, Selbstzweck ist, um derer willen man alles andre tut. 1 ) Für das Verhältnis von Lust und Tugend hat diese Lehre, worüber weiter unten eingehender zu handeln ist, wichtige Konsequenzen. Weiter finden wir bei Gassendi den epikureischen Gedanken, 2 ) daß jede positive Lust aus einem Bedürfnis, mithin einem Schmerze entstehe, falls dieser nämlich gehoben werde, daß somit das eigentliche Ziel aller Lust nur in der Schmerz- losigkeit zu suchen sei (II S. 703). Dieser Gedanke leitet uns über zu dem Wesen der Lust. Der epikureischen Unterscheidung von voluptas in stabilitate (v. stabilis) und in motu {fjdovr) xaTaorrjjuaTixr] und xard xivrjoiv) spricht Gassendi volle Berech- tigung zu. Darin besteht ja nach seiner Meinung gerade der wertvolle Unterschied zwischen Epikureern und Kyrenaikern (II S. 678 — 693 quae voluptas fuerit, quam Epicurus vitae beatae finem fecerit). Nimmt er auch nicht ausdrücklich die epikureischen Begriffe herüber, so harmoniert er in der Sache doch mit Epikurs Schule, 3 ) wenn er sagt (II S. 715), die höchste Lust, tranquillitas animi, könne erst progressu temporis concinnari, d. h. ex volup- tatum massa veluti correcta et turbulentioribus (d. h. volup- tatibus in motu) detractis, redacta in ordinem, quasi conformari numerisque suis perfectam recteque constitutam haberi. Dieser status tranquillus, das abgeklärte Stadium der Leidenschafts- losigkeit, ist die Basis, ohne die kein Leben mit amoenitas denkbar ist, hie status est quasi fundus, ex quo omnis sincera voluptas colligitur . . . sine quo nulla voluptas est voluptas (II S. 717). Mit der Bevorzugung der voluptas stabilis durch die Epikureer hängt ein weiterer fundamentaler Unterschied eyvcofiev . . . ng&xov dya&dv ovfupvzov. Cic. fin. 1 9, 30 omne animal, simul- atque natum sit, voluptatem appetere eaque gaudere ut summo bono, dolorem aspernari ut summum malum et quantum possit a se repellere, idque facere nondum depravatum, ipsa natura incorrupte atque integre iudicante. x ) Cic. fin. 1 12, 42 quoniam id est vel summum vel ultimum vel ex- tremum bonorum, quod ipsum nullam ad aliam rem, ad id autem res refe- runtur omnes, fatendum est summum esse bonum iueunde vivere. 2 ) Zeller a. a. 0. S. 440; Diog. L. X 139 ogog xov fieyiftovg xü>v f)8ov&v r) Jiavxog xov dXyovvxog vTzetjatQsoig ; 128 . . . xovzov ydg %ägiv ajzavza ngdxxofxsv oncog fxrjXE dXyööfisv (xy]xe xagßwfisv " oxav 8s arca^ xovxo Ttsgl rj/iäg yevrjxai Xvsxac xäg 6 xfjg xpv%fjg ytiiiiov ovx zyr_ovxog xov £q?ov ßadl&iv wg Tigog evSeov xi . . . xÖxe yao f)8ovfjg ^QEiav s^ofisv, oxav ex xov /nr} naoelvai xr\v fjdovrjv dXyöj/biEv ' oxav 8s fit] dlycöfiEv ovxsxt xfjg fjSovfjg Ssöfis&a; 131, 144 ovx. ijiavg~sxcu sv xfj oaoxi i) r]8ovr) ijrsiSäv anat; xo xax' evSeiüv dXyovv Eg'aiosd 1 }] äkka fiövov noixillsxai. Cic. fin. 1 11, 37 maximam voluptatem illam habemus, quae per- cipitur omni dolore detracto. 3 ) Diog. L. X 136 f] fisv yag dxaga^ia xal dnovia xaxaoxrj/uaxtxai sloiv i)8oval, i) 8e %agd xal sixpgoovvf] xaxa. xivrjoiv Evsgysia ßXsjzovxai. Cic. fin. 1 1 1 r 37 voluptas in motu (xivrjoig), voluptas stans (oxdaig). — 51 — von den Kyrenaikern zusammen, die Einteilung der Lust in körperliche und seelische (II S. 715 indolentia corporis und tranquillitas animi). 1 ) In Gassendis tranquillitas animi erkennt man auf den ersten Blick wieder die epikureische äraQa^ia y äo%Är}ovvr], yakrjvotfjg, die Unerschütterlichkeit des Gemüts ohne innere Erregung und Verschiebung des seelischen Gleichgewichts. Selbst ihre Vergleichung mit dem sanften Gleiten des Schiffes oder der Ruhe des Mannes, der sich im sichern Hafen geborgen weiß, ist nicht originell, sondern Lukrez entlehnt. Gassendi fühlt sich ganz eins mit Epikur im Gegensatz gegen die Kyre- naiker; wenn er die voluptas für den finis hält, so meint er nicht die Sinneslust und Ausschweifungen der Wollüstlinge, sondern Freiheit des Leibes von Schmerz, des Geistes von Un- ruhe. Angenehm macht das Leben ein nüchterner Verstand ((pgovrjoig), der die Gründe unseres Handelns erforscht, und die größten Feinde unsrer Ruhe, die Vorurteile, vertreibt.' 2 ) Das summum bonum aber ist so leicht zu erreichen, weil es die Natur dem Menschen an die Hand gibt, es liegt in einem natur- gemäßen Leben eingeschlossen (II S. 715 ff.). Das Hauptmittel zu seiner Beschaffung und Erhaltung besteht in einem Leben der Einfachheit und Regelmäßigkeit; darum Gassendis über- schwängliches Lob der avraQxeia (II S. 725 ff. quae virtus et quanta boni sit vivere parvo) ganz nach epikureischen Vorbildern. 3 } Bei einer Vergleichung der seelischen und körperlichen Lust ihrem Werte nach gibt Gassendi der tranquillitas animi den Vorzug (IL S. 688, 689 ff., 715) mit ähnlicher Begründung x ) Diogen. L. X 136 die Kyrenaiker zijv xazaoz7]/naztxrjv ovx iyxgivovoiv, fiövov de zrjv iv xivrjoei ' 6 <5e dfiqpozigav \pv%rjg xai ow(A.azog. Cic. fin. I 17, 55 animi voluptates et dolores nasci e corporis . . .; Diog. L. X 128 f) zov ocöfia- rog vyieia xai zijg xpvxfjg dzagag~ia; 127 doyl.r\oia zov ooifiazog; 37 yaXqviCeiv , 83. frag. 425 u. 429. 2 ) Diog. L. X 131 f., 122 (xrjzs veog ng wv fiskksrco (piXoooyeTv fxrjze yigojv VJtaQzcov xoxiärco cpikooocpibv ' ovrs yäg äoigog ovdei'g iaziv ovzs ztägcogog Jigog zo xaza xpv%rjv vyiatvov. 3 ) Diog. L. X 127, 130 (144) xai zrjv avzägxeiav dyadov fisya vofxi^o(isv . . . zo [iev (pvoixov szäv svjzögiozov iazt, zo de xevov Svojiogiozov; fragm. 202 6 ovv z>] (fiaei nagaxo/.ov&wv xai /nt] zaig xsvaig Sö^aig iv szäacv avzägxtjg ■ Jigog yag zo zr/ cpvaei dgxovv näoa xzrjoig iozi Jilovzog, jzgög de zag doglozovg ogeg'sig xai 6 /ueyiozog jiXovzog iozi jievia; fragm. 200, 135a; Usener a. a. 0. S. 345; Diog. L. X 146 (Sent. 21) evnogiazöv iozi zo (zo) dkyovv xaz' evdeiav i^aigovv xai zo zov okov ßiov navzelfj xadiozäv ' d)Oze ovSkv jzgooöeizj.i ztgayfiäzoiv dycövag xexzrjfiivojv; Sent. 15. — Cic. fin. 1 14, 47 temperantiam expetendam . . . quia pacem animis afferat et eos quasi concordia quadam placet ac leniat. tem- perantia est enim, quae in rebus aut expetendis aut fugiendis ut rationem sequamur monet. Lucr. V 1115 . . . Divitiae grandes homini sunt vivere parce Aequo animo. IUI 170 ff., V 1428 ff., II 17, III 955 u. ö. — 52 — wie Epikur. Die leibliche Lust ist ganz und gar an das gegen- wärtige näftos gebunden, die seelische gründet sich auch auf Erinnerung und Erwartung; darum ist sie jener weit überlegen; sie läßt uns jederzeit die Freiheit, bei dem Angenehmen zu verweilen, vom Unangenehmen die Gedanken abzuziehen. 1 ) Hauptsache bleibt doch die seelische Lust, Ungetrübtheit des Verstandes und Urteils ; wenn es hiermit recht bestellt ist, so kann man sich auch in äußere Unfälle schicken. 2 ) Körper- licher Schmerz ist entweder kurz oder wird durch Gewöhnung erträglich ; er vermag keinesfalls das Glück des Weisen dauernd zu trüben; man kann ihn schließlich durch die Lust der Er- innerung besiegen. 3 ) Bei der engen Verbindung von Seele und Leib und der vielfachen Abhängigkeit seelischer Schmerzen und Genüsse von leiblichen (II S. 722) ergibt sich die wichtige Pflicht, auch der indolentia corporis neben der tranquillitas animi die nötige Sorgfalt zu widmen. 4 ) D. Die Lust und die Tugend. Als wichtigste Konsequenz seiner Auffassung vom höchsten Gut lehrt Gassendi mit den Epikureern, daß ein Zwiespalt zwischen Lust und Tugend gar nicht besteht. Die Tugend ist zwar nicht höchster Zweck, sondern xelog, finis bonorum, ist die voluptas ; und doch ist er mit den strengsten Moralphilosophen einig darüber, daß Tugend und felicitas untrennbar zusammen- gehören. 5 ) Die Tugend hat ihren Wert in ihrer Bedeutung als *) Natorp, Ethica des Demokritos 1893 (S. 127—142 Epicur); Cic. fin. 1 17, 57 ut iis bonis erigimur, quae exspectamus, sie laetamur iis, quae recor- damur . . . sapientes bona praeterita grata recordatione renovata delectant; Diog. L. X 137 ttjv yovv odoxa 8iä zo nagov fiovov %einä£eiv, ztjv de vjvyr\v xal öia xo jtagsk'&ov xal zo nagov xal zo fieXhov ' ovzmg ovv xal fiei^ovag ydovä; slvai zfjg y>vxrjg. Usener a. a. 0. S. 284, fragm. 425 aus Epict. Stob, floril. VI 50 zi jioz' ovv f) vjv%r) fall fiev zoTg zov aeö/uazog äyatioig /xiXQOZSQOig ovoi Xai'gsi xal yalrjviä, ü>g xt]xe. 3 ) Diog. L. X 140 oi %Qovi£,ei zo aXyovv ovve%ä>g ev zfj oagxi . . . ; Usener a. a. 0. S. 139 fragm. 122; Epic. an Hermarchus . . . tanti aderant vesicae et torminum morbi, ut nihil ad eorum magnitudinem posset accedere, com- pensabatur tarnen cum his omnibus animi laetitia, quam capiebam memoria rationum etc; Diog. L. X22, 133; Cic. fin. 1 15,49. 4 ) Cic. fin. 17, 55 animi voluptates et dolores nasci fatemur e corporis voluptatibus et doloribus. 6 ) Gass. 11704—711, 715 ff. virtus est medium maxime idoneum ad ultimum finem summumve bonum consequendum ; II 691 . . . beata vita — 53 — Mittel zur Lust, und zwar ist sie das vornehmste medium; sie macht glücklich wegen der Lust, die aus ihr entspringt, diese Lust aber ist nicht zu suchen in dem Bewußtsein der Pflicht- erfüllung, des tugendhaften Handelns, sondern in der Befreiung von Unruhe, Furcht und Gefahr, oder positiv in der Beschaffung der tranquillitas, die sich aus der Tugend als ihre Folge ergibt. 1 ) Selbst die scheinbar selbstlosesten Taten und Opfer für Freund- schaft oder Vaterland basieren auf dem Streben nach Lust. 2 ) Diese Gedanken bilden die Grundlage zu Gassendis Tugendlehre (de virtutibus II S. 736—822), wo der Verfasser die virtus moralis und ihre Unterabteilungen, die vier Cardinaltugenden, mit Beziehung auf ihre Stellung zur Lust ganz in epikureischem Sinne eingehend behandelt. 3 ) Betrachten wir die Tugenden im einzelnen, so trägt die prudentia, die eigentliche ars vitae, zu unserem Glücke bei, indem sie uns die nötige Anleitung gibt bei der Auswahl dessen, was zu meiden oder zu wählen ist, zugleich uns aufklärt und uns das Leben vernunftgemäß zu gestalten behilflich ist. 4 ) Die fortitudo dient der voluptas, in- dem sie den Verlust der tranquillitas verhütet durch Über- windung der mala (Tod, Schmerz, Schande, Armut usw.). 5 ) Die Selbstbeherrschung (temperantia) erhält die Seelenruhe, weil sie sich bewährt als die verständige Beherrscherin aller cupiditates, die das decorum überschreiten und darum Unlust zur Folge haben müssen. 6 ) Die Gerechtigkeit endlich, die Basis aller ipsa ex eo habenda superior est, quod virtus ad ipsam ut ad finem suum referatur II 740. — Diog. L. X 140 ovx eoziv ydicog Cjjv ävev zov (pgori^icog xal xa?.ä>g xal dixatcog, ovöe (pQovlfiwg x. x. x. öix. avev zov r]dea>g\ dgl. 132; Cic. fin. 1 18, 57 non posse iucunde vivi etc. *) Gass. II 706 die virtus schafft honor und dignitas, diese securitas (= Lust) ; Usener a. a. 0. fragm. 70 zifirjzEov xo xakov xal tag dgezag xal za xoiovzÖTQOTia, iav f/öovrjv jzaoaaxevä^t] . . . fragm. 69, 116; Cic. fin. 112. 42. 2 ) Gassendi entlehnt das Beispiel des Torquatus aus Cic. fin. 1 10, 34. 3 ) Cic. fin. 1 13 — 16. — Gassendi schließt sich bei Definition des Be- griffs virtus der aristotelischen Auffassung an, er unterscheidet (II 705) neben den ethischen Tugenden die dianoetischen. 4 ) Gass. II 743 ff. ; Cic. fin. 1 13, 43 ff., 19, 62; Diog. L. X 132 ff. 5 ) Gass. 11765—773; Cic. fin. 115,49 Zweck der Tapferkeit ist, ut sine cura metuque vivamus animumque et corpus . . . molestia liberemus . . . robustus animus mortem contemnit . . . fortitudinem laudari . . . non suo no- mine . . . sed quia . . . voluptatem pariat. 6 ) Gass. II 773 — 783 ; Cic. fin. 1 14, 47 temperantiam expetendam esse r quia pacem animis afferat et eos quasi concordia quadam placet et leniat. temperantia est enim quae in rebus aut expetendis aut fugiendis ut rationem sequamus monet. In Betracht kommt speziell die temperantia als sobrietas und castitas. — Hempel a. a. 0. S. 13— 25; Lucr. IV 1040 ff., DT 982 ff., II 17 ff., V1115ff.; Diog. L. X131; Usener, Epicur. Spruchsammlung I Wien. Stud. X, 1888, Nr. 18, 51, 71, 80 Mahnungen zur Beherrschung der Liebes- — 54 — Pflichten, dient nicht minder dem Zweck der Nützlichkeit, also der voluptas. Der Gerechte lebt in Ataraxie, er braucht nicht wie der Frevler die Strafen des Himmels und die Rache der Menschen zu fürchten. 1 ) Bezeichnend ist, daß Gassendi mit den Epikureern den Ursprung des Rechts herleitet aus der utilitas communis, 2 ) welche die ersten Abmachungen und Verträge zwischen einzelnen Menschen und ganzen Gemeinschaften garantieren sollten. Ist somit der Nachweis geführt, daß für Gassendi und die epikureische Schule die Tugend nur Mittel zur Erlangung der felicitas, aber ein ebenso sicheres wie unentbehrliches Mittel ist, so wird daneben doch auch von dem Weisen verlangt, daß er die Tugend übe nicht nur aus Egoismus, sondern auch aus Freude am Guten selbst. 3 ) E. Das Idealbild des Weisen. In seiner bis in die kleinsten Einzelheiten ausgeführten Pflichtenlehre entwirft Gassendi das Bild seines Weisen, das ganz den epikureischen Anschauungen über das höchste Gut und sein Verhältnis zur Tugend entspricht ; denn bei der hohen Bedeutung der Einsicht 4 ) für das Leben kann nur der Weise, der Philosoph, handelndes Subjekt in seiner Ethik sein, denn nur der vir sapiens kann tugendhaft, nur der Tugendhafte wahrhaft glücklich sein (II S. 7 15 ff. solum sapientem virtutem moralem amplecti posse). Der Weise legt sein Leben so an, daß er kraft seiner Ataraxie gegen alle Schicksalsschläge ge- wappnet ist, er steht über den Ereignissen 5 ) (II S. 671, 7201, 743 ff.). Solche tranquillitas ist aber obtentu facillima (II S. 715) wegen der Genügsamkeit und des naturgemäßen Lebens des leidenschaften und zügellosen Begierden wegen ihrer die Jugendkraft zer- setzenden Folgen. J ) Gass. 11783—807; Cic. fin. 1 16, 50 u. 53; Diog. L. X 144 6 dixaiog dragoxrörazog , 6 8' äöixog nXtioxr\g raga^ffg ytficov; ders. 151. 2 ) Gass. II 800f.; Diog. L. X 151, 152; Lucr. V. 3 ) Gass. II 706 virtus ipsa sibi pulcherrima merces. Philod. d. rhet. Vol. Herc. Va. col. 25 man solle die Gesetze halten t. wojieq de oiziov ov zo jzÄeiov jzdvzcog dXXd zo rjdiov aigetzai, ovzw xal xqövov ov zov fxrjxiozov akld zov fjöiozov xaoni'Qzzcu; 145 (Sent. 19 u. 20); Cic. fin. 119,63. 4 ) Gass. II 703, 704 das bonum utüe schafft voluptas; II 750 ff. prud. oeconom; Usener a. a. 0. S. 108; Philod. de vitiis IX c. 12 tzeqI zrjg cpdoo6cpq> deovo-qg xz/joscog; Diog. L. X 120 xzrjosu)? jiQOvorjoeoftai xal zov fiitäovzog; 121 %Qt]fiaziOEO&ai ze a).).' cljzo /uovrjg oo xaza- xoXov&eiv rj zjj zü>v (pvoixcöv eifj.aQfJ.svr] dovXeveiv. •) Falckenberg, Gesch. d. neuern Philosophie 4. Aufl., Leipzig 1902, S. 54; Ueberweg-Heinze, Gesch. der Philosophie III 9. Aufl., Berlin 1907, S. 106; Lange, Gesch. des Materialismus I, Recl. Leipzig, S. 315. Pfeiffer. 5 — 58 — zutreffend scheint mir Batteux den Grund für diese Tatsache darin zu suchen, daß Gassendi eigentlich mit den Epikureern nichts als den Namen gemein habe, er hätte seine Moral so gründlich umgebildet, daß „nach seinen Verbesserungen und Modifikationen von der vermeinten Moral des Epikur, oder des Epikureismus, offenbar nichts mehr übrig bleibt". 1 ) Im Gegen- teil, Gassendi hat in seiner Ethik das vollendetste materia- listische System des Altertums, das System Epikurs, wieder ans Licht gezogen, den Zeitverhältnissen gemäß umgebildet und die christliche Theologie damit zu vereinigen gesucht. Als cap- tatio benevolentiae hat man es wohl anzusehen, wenn Sam. Sorberius in seiner praefatio zu Gassendis Werken dessen pietas und Liebe zur katholischen Kirche ein überschwängliches Lob- lied singt; 2 ) Gassendi selbst ist es daran gelegen, keinen Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit aufkommen zu lassen, darum im über prooemialis seine Erklärung, er bekenne sich zu keiner be- stimmten philosophischen Richtung, sola nempe est Orthodoxa, hoc est, quam accepi a maioribus, Catholica, Apostolica, Romana Religio, cui unice haereo. 3 ) Diesem Bekenntnis entsprechend nimmt er im Verlauf seiner Darstellung wiederholt Gelegenheit, als scheinbar getreuer Sohn seiner Kirche sich auf Sätze der Heiligen Schrift und Tradition zu berufen und in künstlicher Entrüstung die widersprechende Anschauung Epikurs als super- stitio oder nefaria impietas zu verwerfen; manches allerdings empfiehlt er auch zur Nachahmung. Hierin folge er dem be- währten Vorbilde der Heiligen Väter, diese hätten auch nicht kritiklos die heidnische Philosophie von vornherein verworfen, sondern nur die Pseudophilosophen; 4 ) selbst der vielgeschmähte Epikur und seine Philosophie habe der Kirche manchen Nutzen gebracht und jener werde von Helden des Glaubens gelobt und als Vorbild in seiner Einfachheit und Bedürfnislosigkeit ge- priesen, z. B. durch Hieronymus (II S. 686). Im Gegensatz zu Epikur hält Gassendi fest an einem Leben im Jenseits (II S. 662, 715 u. ö.), das dem Frommen die absolute felicitas bringen werde, bestehend im Schauen des ipsemet ter-Maximus, ter- Optimus, ter-Gloriosissimus Deus. In diesem irdischen Leben kann der Mensch nur eine beschränkte Glückseligkeit erreichen, die absolute behält sich Gott noch vor (II S. 717). Die Gott- losen werden nach dem Tode in ewiger Pein fortleben. 8 ) *) Batteux, Moral des Epikureismus, a. d. Franz. übers., Halberstadt 1792. 2 ) Gass. op. I Sam. Sorb. praef. S. 1. 3 ) a. a. 0. S. 30. *) Gass. op. I. 7 Zitate aus Clemens Alex., Lactanz, Justin u. a. über Wert der Philosophie. 5 ) II. S. 715 benutzt Gassendi die Kirchenlehre von der ewigen Ver- — 59 — Diese Abweichung von Epikur mußte verschiedene Konse- quenzen ziehen, zunächst hinsichtlich der Lehre von der mensch- lichen Seele; sie löst sich nach Gassendi nicht in einzelne Atome auf, sondern lebt nach dem Tode in Unsterblichkeit fort (II S. 664, 667, 773), ferner hinsichtlich seiner Stellung zum Selbstmord. Epikur muß sich einen gelinden Tadel gefallen lassen, weil er in diesem Punkte nicht konsequent genug sei und unter gewissen Umständen ein freiwilliges Scheiden aus dem Leben für zulässig hält (II S. 672). Der mehr deistisch gehaltenen Vorstellung Epikurs, daß die Götter in beschaulicher Seligkeit existieren ohne jede Einwirkung auf das menschliche Geschick, setzt Gassendi im Einklang mit seiner Kirche ent- gegen die Lehre von der göttlichen Providentia; Gott tut sich kund als Leiter und Gebieter alles Geschehens; 1 ) sein Wille muß darum dem Menschen in allem Tun höchste Norm sein (II S. 825), er läßt sich auch durch Gebete und Verehrung beeinflussen, sich seiner getreuen Kinder anzunehmen; 2 ) die Engel sind seine Diener und Vermittler seines Willens; selbst die Dämonen Alten und Neuen Testamentes werden anerkannt, allerdings mit der sehr bezeichnenden Begründung, weil es die Heilige Schrift und viele der heiligen Doctores so lehre (II S. 851 ff.). Diese scheinbare Harmonie mit den Glaubensanschauungen seiner Kirche hindert aber unsern Philosophen nicht, seinen epikureischen Standpunkt konsequent zu vertreten. Das Glück der Seligen läßt er ganz ruhig als summa felicitas gelten; sie ist aber auszuschalten, denn hier handele es sich nur darum, wie man sich im Diesseits das Dasein möglichst bequem machen könne (II S. 662). Noch weniger ernst erscheint seine Vor- stellung von den Engeln und Dämonen; als einziger Grund für ihre Beibehaltung ist ihre Bezeugung in der Schrift und bei den Kirchenvätern ins Feld geführt. Wie wenig sympathisch unserm Gelehrten die Engellehre ist, beweist schon der Umstand, daß er die heidnische Divinations- und Geisterlehre glatt ablehnt als fromme Täuschung, beabsichtigten Betrug oder Zufall. Dabei ist er noch so unvorsichtig, zur Kritik des Heidentums eine Waffe zu benutzen, die man mit ebensoviel Berechtigung auch dammnis zur Stützung seines Satzes dolorem summum malum esse . . . hoc dogma videri maxime conforme fidei sacrae dogmati, quo esse . . . summam miseriam summuinve malum credimus cruciari olim in inferis infandis Ulis doloribus ex ardoribus sempiternis. x ) II S. 769 summum esse mundi rectorem . . . nostrum esse volentes sequi, quocumque duxerit eius Providentia, II S. 664. 2 ) II S. 808ff. Gassendis von Epikur abweichende Ansichten über religio. — 60 — gegen ihn selbst und die Behauptung der Echtheit biblischer Weissagung kehren könnte. Gott habe, so sagt er (II S. 855), die Menschen mit soviel sagacitas und prudentia ausgestattet, daß sie einer Enthüllung der Zukunft zu ihrem Fortbestehen gar nicht bedürften; es sei sogar eine Gnade Gottes, die kommende Zeit im Dunkel zu halten, um des drohenden Un- heils willen (Cicero: quae vita fuisset Priamo, si ab adolescentia scisset); warum sollte aber Gott etwas verhüllen, was er wieder offenbaren will? Mit solchem Argument aber läßt sich auch über die christliche Weissagung der Stab brechen. Aus Gründen kluger Berechnung harmoniert hier Gassendi mit der Orthodoxie, wie er z. B. in seiner Physik die Erde ruhen läßt, weil die Bibel es so lehre, und sich für Tycho de Brahe gegen Kopernikus entscheidet, obgleich des letzteren Hypothese die einfachere und wissenschaftlich wahrscheinlichere Erklärung darbiete. 1 ) Langes geistreiche Bemerkung, Gassendi fiel der Theologie nicht zum Opfer, weil es ihm beschieden war, der Medizin zum Opfer zu fallen, 2 ) erklärt mir darum nicht genügend Gassendis gutes Einvernehmen mit seiner Kirche, denn nichts hinderte die Orthodoxie, nach dem Tode des Gelehrten noch seine Schriften auf den Index zu bringen. Vielmehr hat er wohl deshalb die Katastrophe abzuwenden verstanden, weil er ge- schickt den Schein der Rechtgläubigkeit zu wahren wußte. Zu seiner Entschuldigung aber mag hinzugefügt werden, daß es ihm, wie Lange (a. a. 0. S. 307) treffend bemerkt, nie einfiel, die Akkommodation an die Kirchenlehre weiter zu treiben, als irgend notwendig schien. Während Descartes aus der Not eine Tugend machte und den Materialismus seiner Natur- philosophie in den weiten Mantel eines durch seine Neuheit blendenden Idealismus hüllte, blieb Gassendi wesentlich Materia- list. Seine Erneuerung der epikureischen Philosophie wurde für die moderne Wissenschaft ungleich wichtiger als andere Versuche einer Wiederbelebung antiker Systeme. 3 ) Die franzö- sische Ethik des 18. Jahrhunderts ist wesentlich durch die auf Epikur zurückgehende Ethik Gassendis beeinflußt. *■) Falckenberg a. a. 0. S. 53. 2 ) Lange, Gesch. d. Mat. a. a. 0. S. 315. 8 ) Falckenberg a. a. 0. S. 53. Spezialdruckerei für Dissertationen, Robert Noske, Borna-Leipzig. Lebenslauf. Ich, Adalbert Friedrich Pfeiffer, wurde geboren am 20. April 1877 zu Heringen, Hessen-Nassau, als Sohn des Pfarrers Ernst Friedrich Pfeiffer und der Marie Louise geb. Gerhold; ich bin evang.-lutherischer Konfession. Den ersten Unterricht genoß ich im Elternhause gemeinsam mit meinen Geschwistern, bis ich Ostern 1891 in die Obertertia des Fürstlichen Gymnasiums zu Schleiz, Reuß j. L., aufgenommen wurde, wo ich Ostern 1896 die Reifeprüfung bestand. Auf der Universität Leipzig, wo ich mich dem Studium der Theologie zuwandte, besuchte ich die Vorlesungen und Übungen der Professoren Brieger, Buhl, Fricke, Guthe, Hauck, Heinrici, Hofmann, Kirn, Kittel, Rietschel, Heinze und Wundt. Nach bestandenem examen pro candidatura und pro licentia concionandi war ich zwei Jahre als Hauslehrer tätig, bis ich Ostern 1902 eine Stelle am städtischen Real- gymnasium zu Freiberg i. S. annahm, wo ich mich jetzt noch befinde. Daselbst erlangte ich durch ständige Anstellung die sächsische Staatsangehörigkeit. Mein examen pro ministerio bestand ich im Oktober 1902 vor dem Königl. Landeskonsis- torium zu Dresden. Nach Einreichung vorliegender Dissertation unterzog ich mich vor der Universität Erlangen am 22. Juli 1908 dem examen rigorosum. Ich gedenke mich dauernd dem Schul- dienste zu widmen. PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY 1887 P45 Pfeiffer, Adalbert Die Ethik des Peter Gassendi