Google

This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project to make the world’s books discoverable online.

It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover.

Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the publisher to a library and finally to you.

Usage guidelines

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.

‘We also ask that you:

+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for personal, non-commercial purposes.

+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the use of public domain materials for these purposes and may be able to help.

+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.

About Google Book Search

Google’s mission is to organize the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web alkttp: /7books. google. com/]

Google

Über dieses Buch

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.

Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei eine Erin- nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.

Nutzungsrichtlinien

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.

Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen unter Umständen helfen.

+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.

Über Google Buchsuche

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|'http: //books .google.comldurchsuchen.

230.6 z 14

U

De Dukunfte

Brrausgeber:

Maximilian Barden. 2

Einundvierzigſter Band.

Berlin. Derlag der Zukunft, 1902,

NT, f 7 + * /

Inhalt.

Alterthum, unier. ....... 489 Altneuland . . 2... 2220. 380 Amerilas Geldnotb ...... 89 AUnglifa . 2. 2222020. 422 Anfiten, wie, entitehen .... 1

j. a. Notizbuch 132. Auergefellichaft, bie... . . . 127 Baare ald Prophet ...... 252 Bank, beutihe ......... 285 Berge, auf dem Heiligen... . 25 Berichtigung, eme . ...... 896 Bettler. Brei... 2 2 2220. 97 Blumenthal |. Berichtigung. Bochumer Gußftahlverein

ſ. Baare. Boetticher, von |. Notizbuch 9. Briefe, zwei -. oo 2 000m 287

Bülow, Graf ſ. Obftruftion.

j. a. Reihstagsftrede. Buren-Senerale |. Bettler.

j. a. Notizbud 135.

ſ. a. Transvaal. Damenfdneider |. Künjtler. Didterin, eine, des Maſochismus. 385

ſ. a. 35. Band 306.

Druide, der . .. 222200. 455 Eifenbahnverftaatlihung . . . . 172 Elektrizitätgejellfchaften . . . . . 206 Entjagung .. . 222000. 423 Entwidelung der Kunft 149 Erfahrung und Sprade ... . . 100 Erfüllung |. Kampf.

Eilien-Berlin . .. 2.2.2222. 371 Finanzkriege, religiöfe . . . . . 392

—— —— ———

Five o'clox.......... 166 Franzöoſiſche Häufer ſ. Häuſer. Frauentracht, die neue. ... 203 ſ. a. Briefe. Freihandel ober Schutzzoll? . . 260 Gährung...... 105 Geiger, der tolle........ 206 Getreidezolle ſ. Streit. Goßler, von, ſ. Notizbuch 92. Goethes Märchen und Hendrichs Bilder .. 22222220. 336 Handelsverträge . . .. 2... 511 Häufer, franzöfifde ...... 30 Hetnrih, der ame... .... 471 ſ. a. Theater 486. Hendrichs Bilder ſ. Goethe. Henker, der . ». 2.2 22002. 54 Himmelöbraut . .. . 2... 420 Huber, Batris . -. 22.2... 279 Sellinef . . 2.22 020 44 Saiferpartei, die... ..... 403

Kaiferrede in Breslau ſ. Kaiferpartei. Raiferreden in Efien und Görlig ſ. Efjen.

Kampf, der, gegen die Kartelle . 222 Kampf, von, und Erfüllung .-. 498 Kartelle |. Kampf.

Rartellenquete, bie... ... 352 Klingers Geniuß.. 2.2.2... 217

Kongreß zur Bekämpfung der Ge⸗ ſchlechtskrankheiten ſ. Briefe.

Konitz ſ. Notizbuch 180.

Konſervativen, die, im Reichstag 389

Kreisierbud, DBa8. . . . 2... 424 N 2 1171) 327 j. a. Eſſen. Kulturwiſſenſchaft . . . . . 7082 Runft |. Entwidelung. Künftler, der, ald Damenſchneider 33 Laſſalle ſ. Neues. Maſochismus ſ. Dichterin. Michel ſ. Sam. Menna Vanna........ 200 Moritz und Rina . :.... 471 Mutter, de 22 2200 461 Kebel,im. -. 2 2222020202. 508 Neues von Yaflale. ...... 18 Nonnen, ZW 2.2 2220 246 Notizbuch 47, 9%, 130, 514 Dbftruftion . . 2 > 2 200. 291 Benfiongejeß der Offiziere j. Wotizbud 94. Bhaedra. . . 2.2.2202. 255 Poſen ſ. Notizbuch 47. Preßpranger....... ... 290 RProſtitution und Syphilis . . . 266 Reformkatholik, ein . . 2... 146 Reichstag ſ. Wilder, ſ. a. Obſtruktion, f. a. Konfervativen. Reichstagsitrede . . 2.2.2.2. . 439 Religion als Echöpfung . . . . 445 Rina |. Moritz. Rom 2. on 237 Rothſchild Hanfemanın -. . . . 307

-..- ——

Sam wider Michel

Sarah Bernhardt ſ. Phaedra.

Selbftanzeigen 86, 124, 170, 247, 282, 304, 347, 463

Seufzen, das, der Steine 76 Shafelpeares Könige... . . . 116 Sindalejen, bei den ...... 188 Sofrates . ...- 22220. 198

Sozialdemokraten |. Kaifer- partei.

Steine |. Seufzen.

Streit, der, um die Getreidezölle. 181

Sudermann |. Theater 311,356, 397, 431.

Syphilis ſ. Broftitution.

Zennisflub, der Torgheimer. . . 40

Theater... 2... 311, 356, 431 Theaterkritit . . . ..--.2.. 397 Tiffot, ein neuer... 2... 175 Transvaal in Berlin ..... 137 Benezuela . .. 20200. 467 Defe .. 2.2 2 222er 265 Weiblichkeit? .. 2... 413 Weihnadtöstraum ....... 461 Wilder, en . 2.2 2000 177 Wilmersdoerffer, der Tall 42 Jaubermadt .......... 208 Beitung, Norddeutſche Allgemeine

ſ. Preßpranger . Sola . 2... 22222. 49 Zola als Runftkritiler .. . . . 65

Zoll ſ. Freihandel.

Berlin, den 4. Oktober 1902. TEIL ZI

x Wie Anfichten entftehen*).

I Direltor einer überfülten Irrenanſtalt war ich einft genöthigt, wegen abfoluten Plagmangels einen mir übergebenen tobfüchtigen Kranken abzuweifen. Große Entrüftung der Begleiter. Ich ftellte den Leuten bie Sachlage dar und gab mir alle Mühe, ihnen mit gutem Rath (mas aller: dings ſchwer war) zu helfen. Am anderen Tage erhielt ih einen anmaßenden Brief des Ortspfarrers X., der mir mit Beſchwerde an die Regirung drohte und mir eine tüchtige Lektion über meine Pflichten als Anftaltdirektor ertheilte. Zuerſt ärgerte ih mich, dann lachte ich; dann aber gab mir ein Meiner Kobold einen Hugen Rath: Du haft ja dem Menfchen noch nie Etwas zu Keid gethan. Du Haft gethan, was Du konnteſt. Warum benimmt er fh denn fo infam? Etwas muß dahinter fieden; ſuche e3 zu ergründen. Mit Gebuld und Tüde fängt man eine Müde.

Darauf fegte ih mid an den Schreibtifh und fhrieb dem Pfarrer einen außerordentlich höflichen und langen Brief, worin ic ihm die Ueber— fülung der Anftalt und die Unmögligfeit für mich, anders zu handeln, als ich es gethan Hatte, ſchilderte. Diefe Berhältniffe feien übrigens fchon allen Gemeinden und Armenpflegen (er fei ja Präfident einer ſolchen) von der Negirung mitgetheilt worden und ferner durch alle Zeitungen befannt. Ich ſprach mein Bedauern über die bittere Rage der Leute aus, verfprach, zu helfen, fobald es mir irgend möglich fei, verlangte aber zum Schluß fehr entſchieden, über die Motive bes in dem pfarramtlichen Brief angefchlagenen Tones aufgeflärt zu werben. Darauf erfolgte eine lange Antwort, worin der Pfarrer mit einigen ſchwachen Ausflüchten den Rüdzug antrat. Amufant

*) Eine Plauderei als Illuſtration zu den Auffägen über bie „Faktoren des Id. („Bufunft” vom 6. und 13. Juli 1901.)

1

2 Die Zukuuft.

waren die Sophismen, die er anmwandte, bie Grashalme, an denen er ſich

feſtklammerte, um doch den Schein eines Rechtes zu beanfpruchen und feinen

erften Brief zu motiviren. Nun fegte ich mich zum zweiten Mal an den Screibtifch und widerlegte bis zum legten Haar mit peinlichſter Genauig- keit alle Argumente der zweiten pfarramtlichen Salve. Am Schluß erfiärte ih, aus den beiden Schreiben unbedingt fließen zu müffen, daß der Herr Pfarrer etwas Befonderes, Perfönliches gegen mich habe, und bat ihn, mir den Grund ſeines Grolles mitzutheilen.

Der dritte Brief fam nad einigem Zögern. Am Anfang verfuchte der Pfarrer noch einige ſchwächliche Motivirungen und Entichuldigungen, aber ſchließlich kam das Geſtändniß: „Bor acht Fahren war id) studiosus theologiae. Damals hatten Sie zum erften Male ein Kolleg über Hypno- tismus angezeigt. Ich hatte mich eingefchrieben, wurde aber mit anderen Theologen und Perfonen abgewiejen, obwohl nicht nur Mediziner, fondern auch Juriſten und Bhilofophen zugelaffen wurden. Das kränkte mich unge- mein; denn ich jah darin eine beabiichtigte Beleidigung der Theologie und meiner Perfon; und feitdem hegte id; allerdings ein ſtarkes Vorurtheil gegen Sie.“

Da hatten wir alſo den Hafen im Pfeffer. Die Sache hatte ſich aber thatfächlich anders zugetragen. In jenes Kolleg, worin Kranke vorgeftellt wurden, drängten fi an bie Hundert Unberufene, ſogar Ladenjungfern, aus Neugier ein. Sch mußte deshalb einfchreiten, begab mich zum Chef des Departement8 und vereinbarte mit ihm, nur die Mediziner, die Furiften und die Fachphiloſophen zuzulafjen, dann aber den Riegel vorzulegen. Dabei waren allerdings Theologen, Chemiker und Polytechniker ausgefchlofien; aber feloftverftändlich lag mir jede beleidigende Abficht fern. Ich dankte dem Pfarrer für feine Offenheit, wies ihm nach, welches Unrecht er mir auch damals ge- than babe, und fchloß nicht ohne eine Kleine Moralpredigt Frieden mit ihm.

Die ehrlihe Selbftanafyfe des guten Pfarrerd und fein offenes, wenn auch etwas erzwungenes® Schlußbekenntniß ſind ungemein lehrreich. So und niit anders bildet fich ein gewaltiger Theil unferer fogenannten Anlichten Über Perfonen und Dinge, wenn wir e8 audy nicht gern geftehen. Die Ih: Majeftät des Pfarrer als stud. theol. war damals gefränft morden. Statt nach den Motiven des Verbote zu fragen und fie zu prüfen, ließ er fi fchmollend durch den Gefühlston beherrfchen. Deſſen Erinnerungbild niftete fich feft in feinem Gehirn ein und fchlüpfte nach acht Jahren bei einer vollftändig anderen elegenheit in Yorm des erwähnten Donnerfeil- bricfes heraus. Hätte ich nicht durch meine geduldige Forſchung feine Vernunft zu der erwähnten gründlichen Selbftanalyfe gezwungen, fo hätte er offenbar bi8 an fein Xebensende mich und vielleicht noch durch Verallgemeinerung alle Frrenärzte unter feinem Bannfluch gehalten.

Wie Anfichten entfiehen. 3

Als ich diefe Gefchichte einem anderen Pfarrer erzählte, entrüftete ex fih über feinen Kollegen. Ex hätte vielleicht im felben Fall ähnlich gehandelt, aber feine Motive nachher nicht fo offen eingeftanden.

Im Jahre 1875 hatte ich von einem Engländer einen Brief erhalten, der die Alkohol: Abftinenz pries8 und mich ich war damaß in München fragte, wie e8 in Bayern damit fiehe. Ich antwortete ihm mit Spott und Hohn und erflärte ihm, es gebe keinen Alkoholismus im Bier-Bayern. Ich fhäme mid) heute noch diefer Antwort. Ich meinte damals, mit den Wölfen heulen zu müffen, ohne mir Har darüber Nechenfchaft zu geben, was ich that. Meine „Anficht” war freilih die landläufige. Hätte ich fie aber objektiv und mit Vernunft zu motiviren gehabt, fo wäre fie ſchon damals ing Nichts zerfallen. Das Gefühl, ich fei zu weit gegangen, kam mir zwar ziemlich bald darauf; aber e3 brauchte lange, bis mir ganz Mar wurbe, daß einzig und allein blödfinnige Borurtheile und der Mangel an Muth, der berrfchenden Meinung entgegen zu treten, mich zu meiner Antwort verleitet hatten.

* *

Herr N. lieſt regelmäßig ſeine konſervative Zeitung und ich hatte ſchon längſt gemerkt, daß ſeine politiſchen und ſonſtigen Anſichten ſtets mit denen der Zeitung genau übereinſtimmen. Eines fchönen Tages bekommt die‘ Zeitung als Redakteur einen jungen, fehr liberalen, mir befannten Schrift- fteller. Mit diefem Wechfel änderte fi) auch ihre Richtung und ihr poli= tifher Horizont. Schon nach wenigen Wochen merke ich eine damit über- einftimmende Aenderung der Anfichten des Herın N. Ohne && zu merken, verbrennt er heute, was er geftern ambetete, und betet an, was er geitern verbrannte. Das thut er mit wunderbarer innerer Ueberzeugung. Die Bosheit, ihn auf feine Widerfprüche aufmerkſam zu machen, konnte ich mir nicht verfagen. Doc erntete ich feinen Dank; er wies mir haarſcharf nad, dag ich im Irrthum und die Sache immer fo gewefen fei. Nun hielt ich ein, da ich merkte, daR ich die Partie verloren Hatte. Diefe Gefchichte erinnert mich aber noch an bie meines Kollegen D., der gegen mid) vor zwanzig Jahren in einer pfychiatrifchen Fachftreitfrage heftig polemifirt hatte. Ungefähr drei Jahre fpäter hörte ich zu meinem Exrftaunen, wie er in einem Referat ganz die felbe Anſicht vertrat, die ich ihm damals entgegengehalten hatte. Das war num feine Anficht geworden, die er immer gehabt habe. Ja, ich glaube fogar, mich ficher zu erinnern, daß er die Sache entdedt zu haben meinte. Es ift merkwürdig, wie bewußt in ein Gehirn gelegte Eier oft unbewußt darin ausgebrütet werben, um fpäter wiederum ins Beroußtfein als angehlich eigene Produkte auszufchlüpfen.

1"

4 Die Zukunft.

Ein Herr 9. Hatte eine Tochter, auf die er fehr ſtolz war und bie er in ben Himmel erhob. Eine gewiſſe Art mit Eigenliebe gepaarter Liebe macht aber bekanntlich leicht eiferfüchtig.. Ein tüchtiger junger Mann vers liebte fich in bie Tochter und die Liebe wurde innig erwidert. ‘Darauf gerieth der Bater in glühende Eiferſucht. Unter allerlei Borwänden konnte er ben jungen Mann nicht fchlecht genug machen. Mit feiner Tochter wurde er barfch und unartig und legte ben jungen Leuten alle erdenklichen Hinderniffe in den Weg. Er ſuchte die Helrath zu verhindern vergebend und benachtheiligte dann das junge Ehepaar, fo weit ers vermochte. Natürlich geſchah das Alles „aus reiner Kiebe*, „aus Vorſicht“, „für das Wohl feiner Tochter". Er glaubte e8 mwenigftens felbft, auf Grund der Railonnements, - die er erft fich und dann Anderen vormachte. ALS jeboch fpäter fein Schwieger- ſohn durch Arbeit und Tüchtigkeit empor kam und die allgemeine Hochachtung gewann, fand Herr Y. allmählich, daß er mit diefer Heirath ſtets einverftanden gervefen war, und rühmte feinen Schmwiegerfohn, wo und wie er nur konnte. | Ein bedeutender Mann, außerordentlich thätig, wohlthätig und intel- ligent, auch öffentlich Bedeutendes wirtend, hatte ftetS die Abftinenten für übertreibende Fanatiker erlärt. Zwar würdigte er ihre guten Abjichten, aber er wollte den Altoholismus nur. mit Mäßigfeit und entjprechenden Bor- ſchriften befämpft wiffen. Sch betone, daß er die Frage genau kannte. Cr vertheibigte jedoch mit Feuer fein Gläschen Wein und befämpfte bei jeder Gelegenheit die Abjtinenzbemwegung, die er höchftens als Heilfur für Trinker gelten ließ. Seine Tochter verlobte fich nun einem Dann, der vom Alkohol zu leiden befam, aber durch einen Abftinenzverein geheilt wurde. Von dem Augenblid an war der Vater für die Abftinenzbewegung gewonnen, die er nun bei allen Gelegenheiten unterftügte. Dankbarkeit und mit den engften Bamilienintereffen verbundene Gefühle hatten alfo die Aenderung feiner An: ſicht herbeigeführt. Menſchlich und richtig, wird man fagen. Gewiß; aber warum nicht fchon vorher? Beifpiele ganz gleicher Art hatte der Mann, freilich bei fremden Leuten, genau gelannt. Alfo war die Aenderung ber Anficht nicht durch den reinen Verſtand, fondern durch das Gemüth herbei= geführt worden; und dabei fpreche ich von einer reich begabten Perfönlichleit.

Ein anderer, nicht minder begabter Mann von fcharfem Urtheil und bedentendem wifjenfchaftlichen Geiſt mar auch Fonfequent der Abftinenzbewegung feindjälig gegenübergetreten. MUebertreibung, Yanatismus, unausfiehliche Geltirerei waren die Bezeichnungen, mit denen er jie überſchüttete. Jahre lang dauernde Diskuffionen machten ihn nur noch. oppofitioneller. Ein Schickſalswitz ftellte ihn jedoch vor eine fchlimme Alternative. Er wurde für eine fehr wichtige Stellung nöthig, in der feine perfönliche Abſtinenz mora⸗ Iifche Bedingung war. Der Mann war fehr ehrlich und entfchloß jich nur

Wie Anfſichten entſtehen. 5

mit größtem Widerwillen, Abftinent zu werden, that es aber ſchließlich doch und bielt treu fein Wort. Ein Jahr fpäter konnte ein Kleiner Kobold hören, wie der jelbe Dann mit größtem Eifer an einem Tiſch für die Abftinenz eintrat, als ob er nie anders gedacht hätte. Er wiberlegte die Argumente der Gegner gerade fo, wie er felbft früher widerlegt worden war. Als er plöglich den Kobold bemerkte, wandte er fich lächelnd zu ihm und geftand: ‘a, wenn man Abſtinent geworden ift, kann man gar nicht mehr begreifen, daß die Leute - trinfen und das Trinken vertheidigen Tönnen. Das fei merkwürdig, aber es fei nun einmal fo. Der Kobold nidte lächelnd, entfernte ſich und dachte: „Theoretifche Anfichten bilden ift nicht das Selbe wie erfahren umd erleben.“

% % *

Wer bat ben Junggeſellen nicht gekannt, ber peſſimiſtiſch und ver- grämt über alle Weiber ſchimpfte (mit Asänahue-Jeiner Mutter natürlich), die Ehe als elende Kette verwarf und haarfcharf bewies, daß die meiften Ehen unglüdlih, die Chemänner elende Sklaven feien und die Erzeugung unglüdlicher Kinder eine Sünde ſei? Und wer fah nicht den jelben Mann nach der Hochzeit vor Freude und Enthuſiasmus firahlend, zum Optimiften umgewandelt, zum glüdlichften aller Ehemänner befehrt? Auch in diefem Kapitel der Liebe finden wir hübfche Beifpiele, wie und auf welcher Grund: lage fi die menfchlichen Anfichten ändern. Logiſcher Weife follte man eigentlih Den befonders lieben, von dem man Gutes empfängt, und fid über Den ärgern, der Einen fehr viel Mühe und Arbeit koftet und von dem man feinen Entgelt dafür bat. In der Wirklichkeit aber ſehen wir fait immer ein andere8 Bild. Wer fih aus einem Menfchen einen Feind machen will, braucht ihm nur Geld zu borgen. Das Gefühl der Dankbarkeit wird ihm bald entſchwunden fein; um fo mehr wird ſich aber ber unangenehme Drud verflärkn, daß er dem Darleiher Geld zurüdzahlen muß. Wer oft Geld gepumpt hat, weiß genug davon zu erzählen. Wenn ein Mann fich in eine andere Frau verliebt und feine Ehefrau betrügt, fo follte er bie Bes trogene wenigftens bemitleiden. Statt aber fo logiſch zu denken, pflegt er in den meiften Fällen alle möglichen ſchlechten Eigenfchaften an ihr zu ent- decken, die er vorher überfehen hatte. Er überfchüttet fie mit Vorwürfen, oft fogar mit Gemeinheiten und macht ihr das Leben fauer. Und Das ift nicht etwa bewußte Heuchelei, nein: er fühlt und glaubt und ift feft über- zeugt, daß feine Frau nie für ihn gepaßt habe, einen unerträglichen Charakter und weiß Gott was fonft für Fehler beſitze. Es ift intereffant, in ben Prozeßalten ſolcher Cheftreitigfeiten diefe Thatfache immer ich möchte faft fagen: mit mathematifcher Regelmäßigfeit wiederzufinden. Eine Ausnahme

1 nen, a 2 —— * Be ee Die Zulunft. A “Ll, r Der . [2 W ne * ».

machen nur beffere, höhere Naturen. Die feruelle Leidenfchaft, die ein Mann für ein Weib oder ein Weib für einen Mann empfindet, macht ihn blind für die Fehler des Gegenftandes feiner jegigen, kehrt aber zugleich den Spieß gegen den verlafienen Gegenftand feiner früheren Liebe; und die ganze Logik fammt Beweisargumenten folgt dem Gefühl nach, wie der Hund feinem Herrn.

Dann wieder fehen wir einen Menfchen den Unwürdigen, für den er ſich Jahre lang aufgeopfert hat, in blindefter Weife entfchuldigen, fogar loben und fich weiter von ihm ausbeuten laffen. Das thun nicht nur Mütter für verzogene Söhne; nein: es ift geradezu ein Naturgejeg: man liebt am Meiften ‘Das, wofür man ſich aufgeopfert hat. Auch hier folgt die Logik ge wöhnlich willig nad).

* j > *

Aus den angeführten Beifpielen erfieht man den gewaltigen Einfluß aller Gemüthsaffelte auf unfere Anfichten. Belanntlich beruhen die Er= fheinungen der Geiftesfrankheiten auf pathologifchen Steigerungen, Herab⸗ fegungen oder Verzerrungen einzelner Erfcheinungen unferer normalen Pfycho- logie, die fie oft förmlich karifiren. Ein paar Beifpiele mögen zeigen, wie die Anfichten von Geiſteskranken durch Affekte bedingt werden.

Die feruelle Verdächtigung Anderer ift bei Geiftesfranfen ein charaf- teriftifches Zeichen des eigenen Erotismus. Wähnt ſich ein Geiſteskranker ver- folgt und beeinträchtigt was mit chronifch gereiztem Affekt einherzugehen pflegt —, fo fängt er in der Regel an, die Anderen, von denen er fich ver- folgt wähnt, ſelbſt zu verfolgen und zu beeinträchtigen. Auch bei Gefunden fehen wir diefe Eigenthümlichkeit des Argwohns, die dahin neigt, unfere eigenen, auf mißmuthiger Stimmung beruhenden argwöhnifchen Gedanken in die Anderen hineinzulegen. So fteigern ih Haß und Eiferfucht durch ganze Geſpinnſte irrthümlicher Anfichten, die wir den Gegenftänden unferer Anti- pathie andichten. Die Karikatur diefes Zuftandes ift der Berfolgungwahn der Geiſteskranken.

Wenn eine affektive Geiftesftörung fich in abwechfelnden Perioden von Schwermuth und heiterer Manie abſpielt (cirkuläres Irrſein), fieht man die Anfichten des Kranken eben fo regelmäßig wie die Perioden feiner Kranl- beit pendelartig abwechjeln. Ein cirkulärer junger Dann erklärte ſich während der ſechs Monate feiner Schwermuth für einen verworfenen Menfchen; er machte fich die bitterften Vorwürfe, dachte nur an Selbitmord, fah die ganze Welt peffimiftiich an und betrug ſich dabei tadellos. In den ſechs folgenden Monaten feiner Manie war er der denkbar frechfte und leichtfinnigfte Lümmel und ergab ſich den ärgften feruellen Ausfchweifungen. Er war Mediziner.

Wie Anfichten entfteben. 7

In der Dlanie- Periode beftand er fein Schlußeramen, weil er durch breifte nafeweife Antworten fein fehlendes Wiſſen erfegte. ALS ein ehrmwürdiger alter Anatom ihm die Unrichtigkeit einer Antwort vorhielt, entgegnete er ihm fühn: „Herr Profeffor, Site ftehen auf einem ganz veralteten Standpunkt.” Und fo weiter. Dabei war er Iuftig, optimiftifch und freute fich des Lebens. Seine Melancholiezeit erflärte er für eine Periode der Dummheit; jest erft fei er gefund. In der Schwermuthzeit wiederum erklärte er den Zufland der Manie für eine Zeit ter Vermworfenheit, die faum durch feine Geiſtes⸗ ftörung zu entfchuldigen fe.

Erperimentell fann man bei einem Menfchen auf dem Affeftwege eine Anſicht dadurch erzeugen, dag man ihn mit Vorbedacht ärgert oder ihm fchmeichelt. Nehmen wir an, ein nentralee Menſch U. höre einem Geſpräch zu, worin ein Herr B. erflärt, die Schweizer feien dumme Bauern, ihre Freiheit jei Schwindel, fie feten Aberhaupt nur ein Krämervolf, während als Gegner Herr E. auftritt, der die Schweizerfreiheit in den Himmel hebt und bie Schweizer das Volk der idealften Anfchaunngen nennt. U. ſchwankt und weiß nicht, welchen Argumenten er glauben fol. Wollen Sie nun 9. für die Schweizer gewinnen, fo wird e8 genügen, wenn Ihnen gelingt, ihn gegen B. aufzuhegen und ihn für C. einzunehmen; feine Affeltwelle wird dann feine Anfichten beftimmen.

Dod wäre es ein einfeitiger Irrtum, alle Anfichten auf Gefühle und Gemüthsaffelte "gründen zu wollen. Wie mächtig aud ihr Einfluß fein möge: noch andere Einflüffe wirken mit zur Beitimmung der Anficht. Chro- niſche Affekte ändern und beeinfluffen allerdings dauernd unfere Anſchauungen. Akute Affefte benebeln’aber oft nur für Augenblide unfer Urtheil; freilich können jie, wenn feine Sorreftur eintritt, auch bleibende Wirkungen haben. Aber die Affeftwelle ift nicht für alle Dinge vorhanden; und da, wo Gefühle nicht mitſpielen, können fie auch unfere Anfichten nicht oder wenigftens nicht direft beeinfluffen. Allerdings find fie fchwer ganz auszufchalten und unfere allgemeine Stimmung beeinflußt unfer Denken auch indirekt bei allen möglichen Kleinigkeiten.

Bom Uraffen haben wir die Nahahmungfucht geerbt. Ein großer Theil unferer Anfichten ift nichts als Folge der Nahahmung und Einpaulerei. Wir haben jie, weil Andere fie haben ober weil man fie uns eingepauft bat. Freilich kommt auch hier wieder der Affekt und treibt fein Spiel bei unferer Auswahl. Unter den eingepauften oder fonft wahrgenommenen An- fichten Anderer wählen wir mit Vorliebe die der Leute, die uns ſympathiſch,

8 Die Zukunft.

und befämpfen die der Leute, die uns unſympathiſch find. Nicht die Mare Logik der Argumente, die dafür oder dagegen fprechen, beftimmt am Stärfften unferen Glauben, fondern die Sympathie ober Antipathie. Diefe Gefühle aber fpielen bei vielen Dingen keine oder eine nur nebenfächliche Rolle, und wenn wir fo und fo viele Jahre gedankenlos an irgend Etwas, zum Beifpiel, daß e8 unpafiend fei, wenn Kinder zu ihren Eltern „Du* jagen, geglaubt baben, ohne uns je ernftlich zu fragen, warum wir daran glauben, dann berührt uns jede dagegen fprechende Behauptung unangenehm. Wir ver werfen fie von vorn herein, weil wir unfere bequeme, in das Gefüge unferes Denkens und Fühlens eingegliederte Anficht nicht germ preisgeben: Dieſe Preiögebung bringt Verwirrung in das gemächliche Bürgerhirn und ftört jo und fo viele altgemohnte Afjoziationen und liebe Gewohnheiten; die Dent- faulbeit wird aufgerüttelt, man ift gezwungen, zu überlegen, pfui Teufel! Lieber weg mit dem Störenfried! Er muß Unrecht haben, unbedingt! Und wie affeftlo8 an und für fich die neue Anficht geweſen fein mag: fie ruft Unluftaffelte hervor, die gegen fie anlämpfen.

Eine neue Anfiht wird daher einerlei, ob fie logifch richtig oder falſch ift um fo leichter angenommen, je weniger alte, mit der affektiven Seite der Seele oder mit Moden und Borurtheilen verknüpfte Anfichten fie ftört. An die Röntgen-Strahlen hat man, troß ihrer Neuheit, überall fehnel geglaubt. Sie ftörten zwar unjere Ideen über die Undurchſichtigkeit unferes Körpers und mancher anderen Dinge. Das betraf aber eine vorurtheillofe, affeftlofe Seite unferes Dafeins; Politik, Religion, Sprache, Geldintereffen, Mode, Liebe und Haß blieben von den X-Strahlen unberührt. Die Ent- dedung war außerdem interefjant und amufant, und fo freute ſich Jeder darüber und nahn fie an. Ueber eine erperimentell erzeugte Durchſichtigkeit undurchfichtiger Dinge hatte ſich auch Niemand vorher eine „feſte Anficht“ zu bilden vermodht. Obwohl dagegen das Geld und der Alkohol feit Jahr» hunderten und länger die Menfchheit korrumpiren und der Krieg gegen Mammon und Bachus allmählich fogar zu einer Eriftenzfrage der Gefell- haft geworden it, find die fchwerften Käupfe nöthig, um auf diefem Boden langfam Fortjchritte zu erzielen. Ganze Sintfluthen von Sophisimen brechen über ung herein und andächtig wird alles zur Vertheidigung der beiden Gott⸗ heiten VBorgebrachte hingenommen. Das ift leicht zu erklären: beide erzeugen unmittelbare Luſtaffekte und verfcheuchen Unluftaffefte. Ein ganzer Berg alter Sitten und PVorurtheile ift ferner auf fie geſchichte. Mächtige Wirthichaft- intereffen ftehen Hinter ihnen und jeder Verſuch, daran zu rütteln, ruft de3= halb Unfuft hervor. Hier haben vernünftige und objektive Anfichten einen fchweren Stand. Das lernt man am Beten am eigenen Leibe.

Es genügt befanntlid, den erftbeiten Unſinn recht oft vor großen

Wie Anfichten entftehen. 9

Maſſen zu wiederholen, um ihm Kredit zu fehaffen, den die Mehrheit an= erfennt. Aus der Fulle der hier zur Verfügung ftehenden Beifpiele will ich nur zwei anführen, die deutlich die Affifche Eigenfchaft in der Bildung menſch⸗ licher Anfichten illuſtriren. Erſtens: der Aberglaube, von dreizehn an einem Tiſch figenden Perfonen fei eine gefährdet, überhaupt die Angft vor ber Unbeilszahl 13. Zweitens: die eben fo große Furcht vor dem Freitag, für Manche auch vor dem Mittwoch. So blödfinnig und dieſer weithin ver- breitete Aberglaube dunkt und fo oft wir ihn verhöhnen, mäflen wir doch beachten, daß er fehr vielen unferer al8 vernünftig geltenden Anfichten näher fteht, als wir beim erften Blid meinen. Alle möglichen Dioden, Sprüche, geſellſchaftliche, Klaſſen⸗ oder Fachvorurtheile beruhen in tieffter Tiefe auf einer ganz ähnlichen Grundlage, nämlich auf der Verbindung des post hoc, ergo propter hoc und ber voreiligen VBerallgemeinerung. Einmal ging ich bei zweifelhaften Wetter ohne Regenfchirm aus und wurde naß. An einem anderen Tage nahm ich meinen Regenfchirm mit und es regnete nicht. Das paffirt mir ein zweites, vielleicht noch ein drittes Mal. Daraus fchlieke ich, daß mein Regenſchirm die wunderbare Eigenfchaft befizt, ben Regen zu verjcheuchen. Unzählige menfchliche Anfichten werden unbewußt auf eine folche Grundlage gebaut und dennoch mit feierlihem Ernft, fogar von hochftehenden und gebildeten Männern und Frauen, vertheidigt. Freilich nicht die von der Regen vertreibenden Kraft meines Schirmes, weil hier der Sophismus gar zu Mar ift; wohl aber gejchieht es überall da, wo das Verhältniß zwiſchen den vermeintlichen Urfachen und Wirkungen nicht fo fichtbar und Eontrolirbar it. Es ift ja fo bequem, zu behaupten, wo man nichts weiß! Und wenn bie Behauptung einmal zur Tradition erhoben ift, dann bat man Feine Ber- antwortlichkeit mehr dafür und darf fie getroft weiter behaupten, ohne ſich zu blamiren. Auch hier will ich ein Beifpiel anführen. Jeder plappert ben unſinnigen Spruh nad, man müffe in „allen“ Dingen mäßig fein, ohne daran zu denken, was es heißt, dem Menſchen im Morden, Stehlen, in ber Tugend, im Trinken von Giften Mäßigkeit zu empfehlen.

% * *

Wer die e ehe Ilramme- mar, bie daß. Pinberisingen sefona.aub.tie Kinder während. der Naht herumivig·damisſie nicht · ſchveieu ollten weiß. ih. nicht.

Daß aber gewiegt und getragen ſein müſſe, hat man lange genug zur Qual der Kinder und der Mütter geglaubt; und Mancher weiß wohl noch heute, mit welchem Entſetzen Hebammen und Großmütter die neue ärztliche Bor: ſchrift empfingen, man dürfe die neugeborenen Kinder nicht wiegen und folle fie ruhig fchreien laffen, bis fie gewöhnt feien, die ganze Nacht burch zu

10 Die Zuhmft.

fchlafen. Doch fiehe da: es ging prächtig; die alte Sitte, die als unan⸗ greifbar feftftehende Wahrheit galt, ftellte fich zur Beſchämung unferer Groß:

muütter und Hebammen als finnlofer Aberglaube heraus. Wie viele Leute

glauben Heute noch, es fei furchtbar gefährlich für die Augen oder ein anderes Drgan, bei offenem Fenſter zu fchlafen! Der Glaube an die angebliche Wirkung einer Unzahl fogenannter Heilmittel hat genau fo viel Berechtigung wie der an die Negen hemmende Kraft meines Schirme. Einmal wurbe ein Kranker nad Anwendung eines Mittels beffer. Ein Bischen Suggeftion des Arztes und des Kranken halfen dann dem Mittel zu hohem Anfehen; e3 wurde allgemeine Mode; die ganze Welt ſchwor nur. noch auf dieſe Panacee, bis ihr Nimbus allmählich verfhwand und mit dem Nimbus wirk- {ich auch die Heilwirkung. So erging es den Bilutentziehungen und un⸗ zähligen Kräutern und Mirturen; fo ergeht e8 heute langfam der allein felig machenden Weintherapie und fehneller unzähligen neuen chemifchen Heilmitteln. Freilich tragen Gewinnſucht und Reklame, die im Hintergrund lauern, ftarl zur vafchen Verbreitung folder Mittel bei. Beide nugen jedoch nur die Pfychologie des menfchlichen Glaubens aus. Die Sache beginnt mit einer falfchen und voreiligen Berallgemeinerung, die allmählich durch Suggeftion

zur Mode und dadurch zur Anſicht unzähliger Menfchen wird. Yragt man

dann die betrogenen Leute, worin eigentlich der Beweis für die Richtigkeit ihrer Ueberzeugung Liege, fo antworten jie ſtolz und ſelbſtbewußt: „Das ift ja die heute allgemein herrfchende Anſicht und der berühnite Herr Geheim⸗ rath So und So, dem ich mindeſtens ſo viel zutrauen darf wie Ihnen, ver⸗ theidigt ſie; damit Punktum.“

Suggeſtion und Mode haben auf die Bildung der Anſichten den größten Einfluß; ihre Macht iſt nicht geringer als die der Dummheit, mit der ſie im Bunde ſtehen. Ich habe oft verſucht, mir darüber Rechenſchaft zu geben, wie ſolche Anſichten ſich in den Köpfen ſogar hochangeſehener Aerzte einniſten können. Ich laſſe die Charlatanerie, den Schwindel und die Geldſucht bei Seite, die man natürlich in erſter Linie verantwortlich macht und den Aerzten wie den Pfuſchern unterſchiebt. Ich will keineswegs die menſchlichen Schwächen, die dem Aerzteſtand, wie jedem anderen, anhaften, leugnen oder beſchönigen; aber es iſt viel mehr dumme Ehrlichkeit und unbewußter Glaube da, als man glaubt. Die Aerzte ſind auch Menſchen. Wenn man die ungeheure Abſurdität der Anſichten der Menſchen und erſt recht der kranken Menſchen über Geſundheit und Heilmittel in Betracht zieht, darf man die Aerzte auf dieſem ſchwierigen Gebiet, wo unſer Wiſſen noch ſo ſehr im Dunkeln tappt, nicht zu ſtreng beurtheilen. Das Reſultat meiner Ueberlegung kann ich, wenn auch etwas paradoral, in dem Sag ausdrücken: „Wo man am Wenig: ften weiß, wird vielfach am Meiften behauptet.“ Beifpiel: Dank dem Fort-

Wie Anfichten entfichen. | ‚1l

fchritt der Chirurgie und der Augenheilkunde find die Indikationen viel präs zifer geworben, aber auch die Gefahren und die unficheren Fälle viel bejier den Xerzten zum Bewußtſein gelommen. Die Folge war, daß die Chirurgen und die Augenärzte in ihren Behauptungen und Diagnofen viel vorjichtiger und willenfchaftlicher verfahren als früher, gerade, weil fie viel mehr leiften. In der inneren Medizin, Neurologie u. |. w. tappt dagegen die Therapie noch vielfach im Dunkel; und gerade hier ift da8 Reich der Modemachtſprüche und folder therapeutiſcher Anfichten, die fi dem Glauben an die Geheimkraft meines vorhin erwähnten Negenfchirmes oder der Zahl 13 nähern. | Was man Stanbedvorurtheil nennt, beruht auf einem Sompler von einfeitigen Studien und Gewohnheiten und auf dem Verkehr mit Menſchen der gleichen Richtung. Das Gehien wird pielfah von Jugend auf in enge Bahnen gebrillt und kann dann nicht mehr ander8 denken. Auf folcher Baſis bilden ſich Standesanlichten, religiöfe, nationale, politifche Anfichten der wunnderlichften Art, die im Licht einer ruhigen, vorurtheillofen Logik un= glaublih dumm erſcheinen. Ich fpreche nicht von dem berüchtigten Jäger: latein und den Blüthenlefen aus den Anfichten des Militärftandes, des Adel⸗ ftande8 oder des Schufterftandes, bie mir ferner ftehen. Die theologifche Sophiftil und Polemik liefert zu der Frage viele ergötzliche Beifpiele. Höchſt intereflant find in diefer Beziehung die Bekenntniſſe des hochbegabten Pater Chiniquy (Funfzig Jahre in der römifchen Kirche) und die Art, wie er aus tieffter ethifcher Meberzeugung und von den edelften Motiven getragen von der katholiſchen in die proteftantifche Sophiftit übergeht. Die Methode, wie die theologifche Polemik den Menſchengeiſt umformt, hat Goethe draftijch genug in der Ant⸗ wort dargeftellt, die Mephifto dem Schüler giebt. Der Theologe, der nad) feinen Predigten weder Widerfpruch noch Diskuſſionen über fich ergehen zu laſſen hat, muß nad und nad zum Pontifer werden. Seiner Soppiftif fehlt die Korrektur durch den Widerſpruch; fo glaubt er immer fefter an fie und wird fie nie mehr los. Aehnlich ergeht e8 dem Juriften mit feiner ein- feitigen Ausbildung des formellen Denfens. Zwar wird durch Widerſpruch die Logik bei ihm eher gefchärft al8 beim Theologen. Dafür mangelt ihm aber jede Fühlung mit dem Leben. Für den wiflenichaftlichen Analogie: ſchluß, für die langfame, fih durch Experiment und Beobachtung immer forrigirende, immer wieder zweifelnde, immer ſich verbeffernde naturwifien- Ichaftliche Induktion geht ihm jedes Verfländnig ab. Seine Anfichten müſſen immer in Zategorifche, ſcharf umfchriebene und Alles umfafiende Formeln wie in Schubladen eingereiht fein. Dadurch wird für ihn die Rabuliſterei zur Sippe. Auch der Mathematiker hat feine eigene Denkweife, die feine Anfichten über alle Dinge beeinflußt; er fteht vielfach der Metaphyſik näher als der Naturwiffenfchaft. Alle diefe Faktoren bilden große Quellen für

12 Die Zukunft.

Mißverftändniffe und fterile Streitigkeiten, da der Fachmann dadurch unfähig wird, ſich in die Denkweiſe ber anderen Fächer zu verfetsen und dadurch den barmonifchen Zufammenhang de8 Ganzen zu begreifen.

Es hieße, Eulen nah Athen tragen, wollte ich Beifpiele für die Ber- fchrobenheit politifcher und religiöfer Anfichten anführen. Hier wetteifern Affekt und Vorurtheil, um die Dienfchen blind zu machen, bier erreicht die Tragikomik ihren Höhepunkt. Am Anfang des zwanzigften Jahrhunderts behält Boltaire mit feinem „Micromegad* und feinem „Candide“ immer noch Recht. Jeder ift empört über die Schlechtigkeit bes Anderen und moti- birt wunderjchön feine Entrüftung, während er mit trefflicher Sophiftit feine und die feiner Partei eigenen Schwächen und Schlechtigleiten entjchuldigt. Das nennt man „politifche Anſichten“. Im Kleineren fpielt fich der jelbe Unjinn bei allen Parteiftreitigleiten, bis in die Städtchen und Dörfchen hinein, überall ab. Da find die Anfichten im Voraus durch Familie, Weligion, Partei, Nation gegeben. Die objektive Prüfung ift gelähmt.

Das Gemiſch unbewußter Faktoren des Gefühles, des Borurtheiles und des Aberglaubens, auf das fih religidfe Anlichten ſtützen, will ich an zwei Beifpielen zeigen. Dabei ift zu bedenken, daß die Faltoren des Geld⸗ interefie8 und des Egoismus überhaupt, fofern fie eine ehrlich gemeinte Glaubensanſicht beeinfluffen, der Gefühlsiphäre und nicht der Verſtandes⸗ Tphäre zuzurechnen find. Diefe kommt erft in Betracht, wenn die geäußerte Anficht eine erheuchelte oder erlogene, alfo nicht die wahre Anficht des Sprecher® ift. Freilich ift es oft unmöglich, auseinander zu halten, was wirklich ge glaubt und was erheudelt if. Man glaubt gern an Das, was man möchte, und der Mangel an Objektivität ift noch lange keine bewußte Küge. Dan gleitet jo leicht und unbewußt von dem erften in die zweite.

In einem entlegenen Bergdorfe, two e3 viele Selten und Fromme Leute giebt, hielt ich mit einem Freund einen Vortrag über die Abflinenz. Eine in mittleren Jahren ftehende fromme Baptiftin hielt dort ein Abflinenz.Cafe und war außerordentlich eifrig in guten Werken. Wir kamen mit ihr ins Geſpräch; und als wir fhliht umd vorfichtig etwas freilinnigere Anfichten äußerten, entfchlüpfte ihr der Ausruf: „Glaubt Ihr, ich würde al das Gute thun, was ich thue, wenn ich nicht ficher wäre, meinen Plag im Himmel neben den Apofteln zu befommen?“ Das war die Grundlage ihres wohl- thätıgen Wirkens. Man erfauft ji) den guten Pla im Himmel mit guten Werfen, wie früher einen Ablaß bei Tegel. Freilich ift die Sache theoretifch nicht fo gemeint; wäre ein Theologe dagemefen, fo hätte er der armen Frau ihren aufrichtigen Herzensfeufzer übel genug genommen und ihr bittere Vor⸗ würfe gemacht. Feſtgeſtellt muß aber bleiben, daß tief im Gehirn, unterhalb der Schwelle des Bewußtſeins, Tauernde egoiftifche Triebe tüdifch die ſchein—

Vie Anfichten entftehen. 13

bar ebelften veligiöfen und anderen, in ideal alteuiftifcher und uneigennütziger Form ansgefprochenen Anfichten beeinfluffen. Doch ein Bischen unbewußte Bere ma unentbehrlich fein, wenn wir ſchwache Affen-Nachkommen zu

. Ein kluger Daun bat ja mit Recht ge * die Heuchelei ſei ein Zugeſtändniß des Laſters an die Tugend.

Ich wurde einmal von einem Kranken konſultirt. In Folge un- bändiger ferueller Exzefſe der ſchmutzigſten Urt Hatte fich der Mann eine fonträre Serualempfindung (Männerliebe) zugezogen, die ihn mit dem Geſetz in Konflikt gebracht hatte. Er wollte davon befreit werden, um heirathen zu können. Er war außerordentlich fromm, betete inbrünftig in der Kirche und hielt fich ſelbſt für einen außerordentlich guten Menſchen, der Liebe und Familienleben brauche. Dabei war er Weltmann, liebte feine Damengefells fchaft, aber auch Förperliche Thätigkeit. Ein eifriger Verfechter der regle⸗ mentirten Proftitution, der gar nicht begreifen konnte, was dagegen einzu- wenben fei. Er, der die größten Anfprüche ftellte, Hielt fich für fehr an- ſpruchslos. Und der Mann war dabei ehrlich; er heuchelte nicht. Wie diefer Anfichtenfalat in feinem Kopf dauern Fonnte, ift allerdings fehwer verfländ- lich. Es giebt eben Gehirne, deren logiſche Anſprüche fo befcheiden find, dag fie jich felbft gar nicht mehr zu verftehen fuchen. Ich fragte ihn, wie er denn feine Frömmigkeit und die Verehrung, die er für feine Mutter zu hegen angab, mit der Vertheidigung des für die vegffmentirte Proſtitution unerläßlichen Maädchenhandels vereinigen könne, aber den Widerfpruch begriff er nicht; und mit ihm begreifen ihn taufend Andere auch nicht. Eine alt- gewordene parifer Bordellgalterin richtete an die Polizei eine Bittfchrift, worin fie bat, man möge ihr Tonzeflionirie8g Bordell ihrer neungehnjährigen Tochter übertragen. Das Haus fei ftet3 folid, fittlih und religiös geführt worden, ihre Tochter verftehe ſich auf die Leitung, fei fehr tüchtig, fie felbft jegt aber zu alt, um dem Gefchäft noch länger vorftehen zu fünnen. Zu einem meiner genfer Freunde kam eine Mutter und fagte, fie habe gehört, baß er fi) mit der Frage der Broftitution befaffe. Nun habe fie leider eine leichtfinnige Tochter, die auf Abwege gerathen fei und ihr viel Summer be= reite. Sie wollte ihn daher bitten, er möge dafür forgen, daß ihre Tochter in ein Staatsbordell komme. Das feien ftantliche Inſtitute und da müſſe fle gut verforgt fein. Ich glaube, all diefe Beifpiele bedürfen keines Kommentars.

Als ich von den Aerzten ſprach, erwähnte ich, daß der Menſch auf dunklen, unjicheren Gebieten zu fchroffen Behauptungen und Glaubensbefennt- niffen viel mehr neigt als da, wo eine klare wifjenfchaftliche Forſchung Licht verbreitet hat. Nirgends ift diejer Sag jo einleuchtend wie beim religiöfen Glauben; denn gerade im metaphyiifchen Bereich, wo der Menſch abfolut nichts weiß und nichts wiſſen fann, glaubt und behauptet er am Meiſten,

5 verurtheift, verflucht, Haft, quält und mißhandelt er feinen Nebenmenfchen

bfter und graufamer als irgendwo fon. Er baut fih nach feinem eigenen 2 Bilde einen Götzen, von dem er eine Offenbarung über Alles haben will, u was der Menfch nicht verfiehen kann. Natürlich ftellt er diefe Offenbarung 5. mit feinem Menfchenhien völlig materiell, irdifch und menfchlich dar denn ander8 vermag ers ja nicht —, aber er will das Hirngefpinnft mit Gewalt den anderen Menfchen aufdrängen. Wie viel befcheidener ericheinen daneben die Anfichten, die fih auf die Nefultate der ſtets zweifelnden und fich kor⸗ rigirenden Experimente der Naturforſchungen ſtützen, ſofern ſie von Affekten, Intereſſen und Vorurtheilen einigermaßen gereinigt ſind! Freilich: wenn ein Menſch ſich einmal mit Aepfeln den Magen verdorben hat und unbewußt dadurch zu der Anſicht geführt wird, die Aepfel ſeien überhaupt unverdaulich . und deshalb als Nahrungmittel zu meiden ich habe vorhin dieſe falſche Art der Verallgemeinerung erörtert —, ſo iſt Das keine wiſſenſchaftliche An⸗

ſicht; fie ſteht den metaphyſiſchen Glaubensartikeln viel näher als der Wiſſenſchaft. Unter den Affekten, die am Meiſten zu der Erhaltung der Vorurtheile und des Aberglaubens beitragen, muß beſonders die Angſt vor Hohn und Lächerlichkeit, uberhaupt die Angſt vor anders Denkenden erwähnt werben. Sie erſtickt im Keim die Selbſtändigkeit und die Kritik des Urtheiles.

Ein mächtiger Bildungfaktor unſerer Anſichten iſt noch die Sprache. . J Sie zwängt das Denken und die Begriffe in die unvermeidliche Zwangs⸗ H = jade ber Worte ein. Das, was man das Genie einer Sprache nennt, ift

in den Begriffsnuancen al ihrer Worte und Redewendungen enthalten. Die verfchiedenen Sprachen find darin aber ungeheuer verfchieden. Sie ftammen zwar von den Menfchen ‚und deren Sitten, aber fie wirken wieberum auf die Menfchen und deren Anfichten zurüd, drüden ihnen ihren beftimmten, ZZ mit ihren Formen verbundenen Gedankenftempel auf. Der Menſch formt die Sprade und die Sprache formt wiederum den Menfchen. Karl Vogt J ſagte von den franzöſiſchen Schweizern und ſpeziell von den Waadtländern: Sie denken deutſch und ſprechen franzöſiſch, deshalb können fie ſich nicht ausdrüden. Damit wollte er die burgundifche Abftammung diefes Volles und feine ducchichnittliche Unfähigkeit erklären, fich dem Genie der franzöfifchen Sprache anzupafien. Er berädiichtigte aber nur die erblichen Faktoren und wies ihr Dafein in draftiicher Weife an einem vortrefflichen Beifpiel nad. Und dennoch ift die Denkweife des franzöfifchen Schweizer durch feine freilich vielfach vecht unbeholfene und fchwerfällige franzöjifche Sprache 40 fehr beeinflußt, daß er große Mühe hat, fich in der deutfchen Denkweife

Wie Anfichten entftehen. 15

s

zurechtzufinden, wie man am deutſch fprechenden ſchweizeriſchen Hochſchulen feicht fehen Tann. Immerhin paßt er fich viel beſſer dem deutſchen Geift an als der Franzofe. Man ann alfo Hier die Einwirkung beider Faktoren: gruppen nachweifen. Es ift nicht zu bezweifeln, daß ein ganz erheblicher Theil der fogenannten Waffen und Nationalgegenfäge, die zu Hader und Krieg führen, auf dem Babelthurme der Sprachverfchiedeuheiten beruht. Eine Weltſprache als Hilfsfprache für das allgemeine Verfländnig würde zum Weltfrieden ungeheuer beitragen, da ſie wenigſtens einen Theil der gröbften und dümmften Vorurtheile und Mißverfländniffe zwifchen den Nationen befeitigen könnte. Die engliſch fprechenden Bölferfchaften fegen fich heute aus den allerverfchiedenften Raffen und Nationalitäten zufammen. Aber die Einheit der Sprache macht, daß fie fich viel leichter verftändigen und viel weniger befriegen als die anderen Bölfer. ‘Die Sprache bildet alfo einen bedeutenden Theil der Anfichten der Menfchen und das Erlernen neuer Sprachen bildet allmählich viele Anfichten um. Umgekehrt freilich verfümmert das Denken eines Menſchen im leeren Formenweſen, wenn er feine ganze Gehirnthätigkeit für d08 Stubinm von Sprachen verwendet. Schleyer hat mit feinem un⸗ glucklichen Bolapüf ein gutes Beifpiel dafür gegeben.

* % *

Trotz all dem vielfach undurchdringlichen, zum größten Theil unbe- wußten Gewirr der von außen kommenden Motive unferer Anfichten brechen die Bererbungfaltoren doc immer wieder gemwaltfam hindurch. Auf den erſten Blick erſcheinen allerdings die befprochenen Beranlaffungen unferer Anz fhauungen und Glaubensartikel faft fämmtlih als Yaltoren des Ich ber zweiten Gruppe, al3 Einwirkung der Umgebung und der Erziehung auf das Individuum. Das ift aber thatſächlich vielfah nur für ihre legten Urfahen, für den legten Tropfen, der da8 Glas zum Meberfliegen bringt, der Fall. Bedenken wir nur, daß ſowohl die Qualität als die Intenſität der affeltiven Reaktion (der Gemüthsart) eines jeden Individuums eigentlich ererbt iſt und daß auch feine Tendenz, mehr oder weniger an Mode und Vorurtheil zu hängen, ſcheu oder gefellig, geizig oder verfchwenderifch, peflimiftifch oder optimiflifch zu fein, zum größten Theil im ererbten Charakter Tiegt, jo daß zwei ganz gleich erzogene Geſchwiſter fich in beiden Beziehungen total ver- fchieden entwideln können. Da müffen wir doch zu der Einficht gelangen, baß auch hier der Schein trügt und daß wenigſtens ein großer Theil Deſſen, was wir beim erften Blid den äußeren Umftänden und der Erziehung zu- zufchreiben geneigt wären, ſchon in den Keimanlagen vorhanden war. Trog den Einwirkungen verfchiedenfter Sitten, Sprachen und Xebensperhältniffe

16 Die Zukunft.

finden wir bei Engländern, Amerikanern, Deutſchen, Franzoſen und Schweizern, bei Bauern, Arbeitern, Gelehrten und Fürften, bei Katholifen, Proteftanten, Juden, Zflamiten und Bubbhiften die felben Uebereinftimmungen und Vers ſchiedenheiten des Gemüthes, des Willens und der intellektuellen Anlagen, alfo der erblichen Komponenten des Ichs verfchiedener Individuen und Gruppen folder Menſchen (Familien) mächtig entwidelt und als das Wefentliche berrfchend. Mögen auch Bildung oder Unbildung, blendenber Flitter äußeren Glanzes oder bitterfte Noth diefe Komponenten verdeden, fo genügt ed, mit dem pfychologifchen Hobel den Fünftlichen Anftrich etwas abzufragen, um darunter den evolutiven oder phylogenetifchen Werth eines Menſchen zu entdecken. Immerhin muß zugegeben werden, daß diefer Werth durch völligen Mangel an wahrer Bildung am Meiften verfümmert. Darunter verftehe ich jedoch nicht die formelle, fondern die tiefere, wahre Weſensbildung des Fuhlens, des Wiſſens und des Wollens.

* * "

Die Faltoren des ch, vor Allem die des Gefühles, find alfo die zum allergrößten Theil unbewußten Faltoren unferer Aufichten und zugleich die Determinanten unferes Willens, unferer Handlungen. Bon der Illuſion des freien Willens fol bier nicht die Rede fein; der Lefer mag nach den an- geführten Beifpielen feLbft bedenken, wie gering leider der Antheil der objektiven, plaftifchen Vernunft, eines gefunden, Logifchen, von Affelt und Zwangsvor⸗ ftellung freien Urtheils an den meiften Anlichten und Willensregungen der Menichen ift. Unzählige verborgene, uns unbewußte Motive leiten unfer Fühlen und Denken, ohne baß wir es wiſſen. Niemand barf fi) rühmen, ganz ohne Vorurtheil und Affelt zu urtheilen und zu handeln; nur Größen wahn und Urtheilsichwäche kann Das von fich felbft glauben und behaupten. Dagegen follten wir wenigſtens während unſeres ganzen Lebens ung bemühen, fo viel wie möglich von dem Gefpinnft der Vorurtheile, das unfer Denken verdunfelt, zu zerreißen, und fo viel wie möglich von den affeftiven Motiven unferer Urtheile zu befeitigen. Dann werden wir wenigftend etwas felbftändiger, freier, anpaßbarer, neuen Ideen, Kombinationen und Verbefferungen zugänglicher.

Was ift der Wille? Zunächſt ift jeder MWillensaft oder Entſchluß eine fombinirte Refultante unferes Fuhlens und Denkens und jede Handlung eine Ueberſetzung dieſes Entfchluffes in eine Kette von Muskelbewegungen. Warum nennt man aber den einen Menſchen willensſtark und den anderen willensfhwah? Weil die ererbte Fähigkeit oder Tendenz, das Fühlen und Denken in Entſchlüſſe umzufegen, die Entfchlüffe, wenn einmal gefaßt, felt- zuhalten und ſchließlich konſequent durchzuführen, bei den Menfchen vielfach

Wie Antichten entftehen. 17

wechjelt. Ein willensfchwacher Menſch kann aus ganz verfchiedenen Gründen willensſchwach fein. Entweder will er überhaupt jehr wenig, weil er apathifch und denkfaul ift; oder er denft viel, aber bedenkt zu viel; Gegenvorftellungen, Grübeln und Zweifeln zerftören im Keim jeden Entſchluß. Bei Anderen wieder fehlt e8 nicht am Denken, find auch die Gefühle nicht ſtumpf; dagegen ftehen fie unter dem Wechfel impulfiver Wallungen des Gemüthes und der Triebe, die den Entfchlüflen jede Konfequenz rauben. Bei ſolchen Menfchen fehlt dem Willen jede Vernunftleitung, jede Direftive, weil fogar die genialften Gedanken und die fehärffte Einficht gegen ihre Gemüthswallungen nicht auf: zufommen vermögen. 8 giebt noch viele andere Varianten unter den Ur- fachen der Willensſchwäche; aber die erwähnten dürften genügen, um zu zeigen, wie heterogen der fogenannte Wille if.

Das Selbe gilt von willensftarfen Menſchen. Die Willensftärke befteht aus zwei ererbten Hauptlomponenten. Da ift erſtens die Tendenz, auf Grund von Gefühlen oder Ueberlegungen leicht fefte und dauernde Entichlüffe zu faſſen; zweitens die Tendenz, ſolche Entjchlüffe im gegebenen Moment leicht in That umzuwandeln. Es giebt Menfchen, die feſte Entſchlüſſe fallen, aber fi fchwer zur That enticheiden. Das ift feine vollftändige Willensſtärke. Andere wiederum wandeln mit größter Schnelligfeit ihre Gefühle und Ge— danken in Thaten um. Das jind die impuliiven Menſchen; willensitarf find fie aber deshalb nicht, fondern nur gefährliche Lärmerreger. Sie find fogar einer der genannten Sategorien der Willensſchwachen, nämlich den Sklaven ihrer Gefühle und Triebe, fehr nah verwandt. Ein Menſch von ſtarkem Willen kann ganz dumm fein und die Zähigkeit feines Wollens in den Dienft der begrenzteiten Anfichten ftellen. Viele Willensmenfchen laflen fi wiederum von Trieben leiten, von Rachſucht, jerueller Leidenfchaft, Eiferfucht, und ftiften fo gerade mit ihrem ftarfen Willen nur Unheil.

Zweifellos ift der ftarfe Wille der größte Motor der Menfchheit; aber man darf nicht vergefien, daß er nur eine Mefultante ererbter Tendenzen unferes Fühlens und Denkens und ihre Imfegung in Entfchlüffe und Thaten ft. Die Erziehung eines möglichft feiten Willens für dag Gute, Edle und Wahre follte daher die Hauptaufgabe der Pädagogik fein.

Chigny. Dr. Yuguft Forel.

Er

18 Die Zutinsft. Neues von Laſſalle.

Sp" Judenjunge, der feine Herkunft durch ariftofratifche Alluren in Ber- gefienheit zu bringen verfucht, aber natürlich flatt echter Edelmann nur ein lüberlicher Kavalier wird, ein Menſch, der, von verzehrendem Ehr⸗ geiz getrieben, den Caeſar fpielen möchte, fich aber mit der Rolle des Catilina begnügen muß, ein verfommenes Genie, das Geift genug hat, durch witige Einfälle und einfchmeichelnde Suada zu beftechen, aber nicht Charakter genug, etwas Solides zu leiften: Das ift ja wohl das Bild, das dem braven Bürgersmann feine Zeitung von dem großen Agitator Laſſalle entwirft. Wer defien von Eduard Bernitein herausgegebene Reden und Schriften lieft, gewinnt eine andere Borftellung von ihm; und feine von Mehring veröffentlichten Briefe an Marr und Engels tragen viele Tiebenswürdige Züge in das wahrere Bildniß ein. Nach den Motiven böfer Thaten mag der Strafrichter forfchen, dem Duell der guten nachzufpüren, überläßt der VBernünftige Gott und der Gewiſſens⸗ erforfchung bes Handelnden; er ift fchon froh, daß überhaupt Nützliches, Wohlthätiges, Nothwendiges, Bernünftiges gefchieht. Die deutfche Arbeiter- bewegung war eine Nothwendigfeit für Staat und Volk; Laffalle_hat fie ins Leben gerufen, fie organifirt und fi damit feinen Plag in der Weltgeſchichte gelichert, ganz nah bei Bismarck. Und wie hat er die Gründung in feiner düffelborfer Zeit vorbereitet! Marx fchreibt ihm einmal im Staatsanwaltsftil: „Die offiziellen Anklagen gegen Did, darımter die Ausfage einer Arbeiter- deputation von Düffeldorf, befinden jich in den Bundesaften“. Man fönnte dabei an den Deutfchen Bund Metternichg denken. Laſſalle antwortet: „Er: innerft Du Dich der Phrafe aus dem Homer: Einem wie ein belfender Gott erfcheinen? Wenn je auf wen, fo traf diefe Phrafe wörtlich auf mein Verhältniß zu den düfjeldorfer Arbeitern während neun Jahren zu, von 1848 bis 1857, wo ich von dort fortging. Du haft nicht Begriff noch Vor⸗ ftellung, was ich Alles für diefe Leute that, Litt, fakrifizirte (Fremdwörterſucht iſt eine der ftiliftifchen Unarten Laffalles). Kamen fie in Geldnoth, fo famen fie zu mir, fuchten und fanden ftet3 Hilfe. Ich gab faft immer viel mehr, als ich konnte, aber ich gab, weil weniger nicht half und weil ich immer lieber wich überbürden und häufig in ganz extreme Lage verfegen wollte, als diefen Leuten nicht helfen, von denen ich mir fagte, daß jie weniger Nefiourcen haben. Ich trieb Dies Häufig bis zur größten Gewiſſenloſigkeit gegen mich felbft und zumal gegen die Gräfin, die mir doch fehr am Herzen lag und mit deren Schidjal ich doch chargirt war. Hatten fie Ueberwürfniſſe mit der Polizei, jo kamen fie zu mir und ich nahm ſie unter den Schutz meiner Flügel. Ich ftürzte zum Polizeidireftor und erledigte wie oft! durch Drohungen, die ich feinem Anderen gerathen hätte, ihre Differenzen.

Neues von Laffalle. 19

Kamen fie ind Gefängniß, forgte ich, wenn nöthig, für ihre Vertheidigung und ernährte inzwifchen ihre Familien. Hanbelte e8 fih darum, ein jelbftändiges Etabliffement für Welche von ihmen zu begründen, lief ich jo lange herum, bis da8 Geld aufgebracht war, ſtets felbft gebend Alles, was erforderlich war und nicht aufgebracht werden konnte. Mein Haus war ihr Afyl das ganze Jahr. Jeder, der in Werden entfprang, Jeder, der fonft von ihnen fortgebracht werden follte, wurde in mein Haus gebracht, dort mit der größten Kriminalgefahr für mid) und die Gräfin Tage lang gehütet, mit Pferd und Wagen nad) Holland gefandt u. f. w. Jede Neujahrsnacht feierte ich mit ihnen, ihnen Reden über die gefchichtliche Entwidelung des Jahres und feinen Geſammt⸗ inhalt haltend. Lange Zeit hatte ich ihnen trog den wüthendften Drohungen der Polizei, die auch immer bei diefen Vorlefungen, fo und fo viel Mann och, meinem Haufe gegenüber in den Büfchen lag, Vorträge über bie ſoziale Entwidelung feit 1789 trog aller Wuth und aller Drohungen der Polizei gehalten, bis gegen meinen Willen die Arbeiter erklärten, fie könnten und würden mich nicht länger diefer Gejahr ausfegen, und hartnädig wegblieben. (Bielleiht auch aus einem anderen Grunde: weil die Schulmeifterei jie lang⸗ weilte). Hätte ich Düſſeldorf allein auf dem Budel gehabt! Während bes Kommuniftenprogefjed waren meine hierfür gebrachten finanziellen Opfer und meine eigene Miſere fo groß, daß ih wie häufig! mir da8 Geld immer erft borgen mußte, das ich, allmonatlich und auch noch ertraordinär, herſchoß. Alle und Alles Hatte die Reaktion überfluthet, ich allein ftand, wie eine Mauer und ein Wal, Alles tragend, was man von mir getragen wünfchte.“ Eitelkeit, nichts als Eitelkeit, werden gewifle Leute jagen. Ad, hätten wir nur ftet8 in Deutfchland ein paar Dutzend Männer, die ſich aus Eitelfeit in folhem Grade opferten oder einen Kampf auf Leben und Tod für das Recht eines Anderen kämpften, wie ihn Laffalle für die Hagfeldt gefämpft hat! Wa3 dann feine wiflenfchaftlichen Leiftungen betrifft: den Heraflit habe ich nicht gelefen und das Syſtem der erworbenen Rechte mag genug Phan- taftifches und kunſtlich Konftruirtes enthalten welche Rechtsphilofophie litte nicht an diefen Mängeln? —, aber auß dem Guten darin, aus dem Baftiat: Schulze, dem Julian Schmidt und aus feinen agitatorifchen Neben und Plaidoyers ließe fi ein Katechismus der Volkswirthſchaft, Staatskunſt und Geſchichtphiloſophie herausziehen, der mehr Weisheit enihielte als viele Kompendien dieſer drei Wiffenfchaften zufammengenommen. Laſſalle war einer der Wenigen, die den Blick für Das haben, was ift, und durch feinen Zeug der Worte zu bethören find. Von wie unvergänglihem Werth find, um nur Dinge von untergeordnneter Bedeutung zu erwähnen, feine Charalteriftifen der Juftiz und der Preſſe. Marr wundert fich darüber, daß er mit feiner Klage gegen die Nationalzeitung in allen Inftanzen abgewieſen worden war.

9*

20 . Die Zulunft.

Er Hatte Karl Bogt befchulbigt, daß er im Solde Napoleons ſtehe, was {ft 1871 durch die Tuilerienpapiere unmiderleglich erwiefen worden if. Marx vermochte den Beweis nicht zu erbringen, Vogt erhob ſchwere Gegenbe: ſchuldigungen und die Nationalzeitung ließ fich deren Verbreitung angelegen fein.) Laffalle antwortet: „Du fehreibft, nun wüßteſt Du, daß e8 von den Richtern abhängt bei ung, ob ein Individuum es überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann. Lieber! Was habe ih Dir neulich einmal Unrecht gethan, als ich fagte, daß Dur zu ſchwarz ſiehſt! Die preußische Juſtiz wenigſtens heinit Du bisher in einem noch viel zu rofigen Licht betrachtet zu haben.“ Was folgt, wage ich nicht abzufchreiben, aber was dann über die Preſſe ges urtheilt wird, foll ben Leſern nicht vorenthalten werden. Marr will die preußifchen Richter in einem Londoner Blatte vernichten. Das werde er ja, meint Lafialle, ganz famos beforgen. „Aber merken werden fie nichts davon, gar nichts, e8 wird fein, als wenn Du gar nicht gefchrieben hätteft. Denn englifche Blätter Tieft mar bei uns nicht und, fiehft Du, von unferen deutfchen Zeitungen wird auch feine einzige davon Notiz nehmen, feine einzige auch nur ein armſäliges Wörtchen davon bringen. Sie werben jich hüten. Und unfere liberalen Blätter am Allermeiiten. Wo werden denn dieſe Kalbs- köpfe ein Wörtchen gegen ihr heiligftes Palladium, den preußifchen Richters ftand, bringen, bei deſſen bloßer Erwähnung fie vor Entzüden ſchnalzen und vor Reſpelt mit dem Kopf auf die Erbe fchlagen! D, gar nichts werden fie davon bringen, es von der Donau bi8 zum Rhein, und fo weit fonft nur immer die deutfche Zunge reicht, ruhig totfchweigen! Was ift gegen biele Prefverfhwörung zu machen? DO, unfre Polizei ift, man fage, was man will, noch immer ein viel liberaleres Inſtitut als unfere Preſſe. Wie ift gegen diefe ftillichweigende Berfchwörung Aller aufzulommen? Pas possible! Bon Gewiſſen und Scham haben fie feinen Reſt mehr. Was nicht in ihren Kram pafit, darüber memento,mori. Ein Trappift fann nicht ſtummer fein. D, als es noch eine Cenſur gab und Alles bei uns noch naiv war, es war eine goldene Zeit dagegen. est ift der Bolizeigeift und der gemeinite Servilismus in die Preffe felbft übergegangen und es bedarf freilich Feiner Polizei mehr gegen fie, was fie die neue Preffreiheit nennen. Wenn es einer (Zeitung) einfällt, dennoch von Deinen Darftellungen irgend eine Notiz zu nehmen, fo wird es fchlimmer fein, als wenn es nicht gefchehen wäre. Denn man wird Dih Etwas fagen lafien, da8 Du gar nicht gejagt haft.“ Bor ein paar Jahren tauchte einmal der Vorfchlag auf, die Pregmifere durch Annoncenverftaatlihung zu heben, aber es wurde nicht daran erinnert, daß diefer Gedanke von Laffalle ftammt.

Trog feinem ftarfen Wirklichkeitiinn mußte er als weltgefchichtliche Perfönlichkeit der Lift der Fdee zum Dpfer fallen oder, wie der Chrift fagt,

Neues von Laffalle. 21

ber Borjehung als Werkzeug dienen, für Ziele, die von den feinen verſchieden waren. Sein Hauptziel war die demofratifche Republik. Daß eine folde technifch unmöglich wird, fobald da8 Bolt Millionen, Dutzende von Millionen Seelen ftarf ift, daß dann bie fogenaumte bemofratifche Republil, wenn man fie glücklich zu Stande gebracht hat, weiter nichts ift als die Couliſſe, hinter der ein Kapitaliftenkonfortium regirt, und daß fie der Militärdiltatur weichen muß, fobald die Demokratie Miene macht, ihr formales Recht in thatſäch⸗ liches umzufegen: Das hat er ich niemals klar gemacht; er durfte nicht Klar darüber werden, wenn feine Agitation, die feine weltgefchichtliche Aufgabe war, nicht die hinreißende Kraft einbüßen follte. Er fchöpfte feine Ueberzeugung bauptfächlich aus Fichte, auf den er fih in feinem Brief an Walesrode und in der Feſtrede bei der Fichte-Feier ausdrücklich beruft; denn wie Marx einer ber echteften Jünger Hegels, fo ift Laſſalle einer der wenigen ehrlichen Apoftel von Kants und Fichtes Ethik und Staatölehre gegenüber ſolchen Profefloren, die der ibealiftifchen deutfchen Philofophie das Selbe anthun, was bie Hierarchen und Hoftheologen von je her der Bibel angethan haben, indem fie fie in ihr Gegentheil verkehrten und zur Stüge ungeredhter Gemwalten mißbraucten. Es war ein Glüd für Lafjalle und für die deutfche Entwidelung, daß ihn bie Unraft feines Lebens nicht zum ruhigen Nachdenken kommen ließ; fonft würde er den Widerfpruch zwifchen feiner tbealiftifchen Revolutionhoffnung und den von ihm fo deutlich erfannten Machtfaktoren wohl bemerkt haben. Daß bie Arbeiter aus eigener Kraft die beftehende Ordnung nicht umzuftürzen und eine neue aufzurichten vermögen, hat er im Gegenjag zu Marx und Engeld erkannt. Das Revolutionfpielen mit den Arbeitern, fchreibt er im März 1860, nüge zu nichts als dazu, ihre fchlimmen Appetite zu weden, fo daß fie, die immer über Ausbeutung fchreien, felbft Ausbeuter und neben- bei Denunzianten und ſich felbft vergättlichende Dalailamas werden. Ex erwartete da3 Heil daher weniger von den Arbeitern al3 von der Unzufrieden- beit der Bourgeoijie und athmete auf, fo oft es ſchien, al3 wolle ihm aufer- ordentlicher Steuerdrud, eine Hungersnoth, eine Handelskriſis, ein Krieg, ein Weltbrand zu Hilfe fommen. Belauntlid wollte er, da alle diefe Ausfichten täufchten, zulegt die Sache mit vom Staat fubventionirten Produktivgenoſſen⸗ haften machen. Mehr Werth, nicht für feine Pläne, wohl aber für die thatfächlich in Fluß gerathene Entwidelung, hatte die Agitation für das all» gemeine Wahlrecht; und daß er e8 wahrfceinlich gewefen ift, der Bismard mit biefem Recht befreundet hat, gehört zu feinen größten Berdienften. Nicht weniger verdienftlih war fein Kampf gegen den Scheinkonftitutionalismus und die Aufdeckung des wahren und echten Begriffs der Verfaffung bei Beginn bes Konflikte (1862). Beides hat natürlich der Kreuzzeitung, Bismard und deſſen Freunden jehr gut gefallen; nur meinten fie, wenn fie es fagten,

—22—

22 Die Zukunft.

ſei es ſtaaterhaltend, dagegen revolutionär, wenn es Laſſalle ſage. „Was iſts“, fragt Laſſalle in ſeinen beiden Vorträgen, „was auf alle Geſetze ſo einwirkt, daß ſie nicht anders ſein können, als ſie ſind? Das ſind die that⸗ ſächlichen Machtverhältnifſe. Wenn alle gedruckten Geſetzbücher in Preußen verbrennten, könnte man da beliebige andere Geſetze machen? Der König würde einfach ſagen: ‚Die Geſetze mögen untergegangen fein, aber thatſächlich gehorcht mir die Armee; auf meinen Befehl geben die Kommandanten ber Beughäufer die Kanonen heraus und die Artillerie rüdt bamit in die Straßen und auf diefe thatfächliche Macht geftütt, Teide ich nicht, dat Ihr mir eine andre Stellung macht, als ich will.“ Sie fehen, meine Herren, ein König, dent das Heer gehorcht und die Kanonen, ift ein Stüd Verfaſſung. Em Abel, der Einfluß auf diefen König hat, ift ein Stück Berfafjung. Die Herren Borſig und Egels (damald die größten berliner Großinbuftriellen) find ein Stück Verfaſſung. Die Börfe ift ein Stüd Verfaffung. Freilich ift auch die allgemeine Bildung ein Stüd Verfaffung, fo daß es heute bei ung faum gelingen würde, die Zeibeigenfchaft wieder einzuführen; aber da der König alle Stellen im Heer befegt und dieſes nicht auf die Verfaffung vereidigt wird, fo hat er nicht nur eben fo viel, fondern zehnmal mehr Macht als das ganze Land zufammengenommen. Die Unzufriedenen täufchen fich, wen fie meinen, das mit viel Gefchrei erfämpfte Blatt Papier könne ihnen helfen. Nur eine Aenderung der Machtverhältnifje kaun helfen; diefe würde man 1848 erreicht haben, wenn man dem König die Macht über da8 Heer genommen, aus dem königlichen Heer ein Volksheer gemacht hätte. Jetzt läßt fich nichts Andres thun, als den Schein des SKonftitutionalismus zerftören und die Negirung vor der Welt als Das kenntlich machen, was jie ift, als eine ab= folute. Die Kammer muß ausfpredhen, was ift, und fich vertagen, bis die Regirung auf die geforderten Millionen verzichtet." Auf die legten Sätze er- firedte ih natürlich der Beifall der Kreuzzeitung nit. In ihnen ftedte nicht allem das Revolutionäre, fondern auch das intellektuelle Manko Laſſalles, der fo wenig wie die anderen Revolutionäre einfah, daß ſich daS deutfche Volk nicht felbft zu regiren vermochte, daß es ohne die preufifche Heeresreform die ihm gebührende Weltjtellung nicht erringen konnte und daß daher der durch Scheine konſtitutionalismus verdedte und verfchönerte, doch wohl auch ein Wenig ge= milderte Abjolutismus eine Nothwendigfeit war, die man bedauern mochte, aber nicht aus der Welt Schaffen konnte. Gelegentlich lieg Laſſalle ja durch bliden, daß ihm die Unfähigkeit der Maſſen, jich felbit zu regiven, nicht ver- borgen geblieben war. In der Storrefpondenz mit Marz ijt davon die Nede, wie populär ein Krieg gegen Rußland fein würde Marr will dafür agitiren. Laffalle erklärt Das für überflüfiig, weil Rußland fchon verhaßt genug fei. Marr wendet ein, Rußland werde bei und zwar genug gehaßt, aber nicht

Neues von Lafjalle. 23

genug verftanden. Darauf entgegnet Lafjalle: „Das Zweite ift mir ungeheuer einerlei. Mit aller Unftrengung von der Welt fünnen wir doch unmöglich unfer Volt zu biplomatifchen Forſchern umwandeln. Haß in der Menge reicht zu Allem Hin, wenn nur fünf Leute im Lande find, die auch verſtehen.“

Die Diskuſſion der auswärtigen Politik war durch den italiettifchen Krieg von 1859 angeregt worden, der fo viele Parteilundgebungen hervor: rief und auch Engel8 und Laffalle veranlagte, mit Flugfchriften einzugreifen. Aus Laffalles Haltung in diefer Angelegenheit läßt jich erfennen, wie weit das Lob der nationalen und monarchiſchen Gejinnung, das ihm von ber Gegenfeite mitunter gefpendet wird, begründet ift. Daß er national fühlte, betheuert er jelbft und Mare mahnt er mehrmals, ſich nicht zu verengländern. Bor dem Wort Staat hatte er feine abergläubige Schen, und wenn Bis: mard oder ein König feine Pläne durchgeführt hätte, fo würde er es nicht für eine Schande gehalten haben, hoffähig zu werden. Aber einen preußiſchen Drden bat er wirklich nicht verdient. Nachdem fchon Bernftein die Haupt: fache gefagt hat, enthält jeut der Briefwechfel mit Marx feine Gelinnung fo vollitändig, daß man in jede Herzensfalte ſchaut. Längft war ans feinem Briefe vom zweiten Mat 1863 an Rodbertus befannt, day er „Großdeutſch⸗ fand moins les dynasties“ wollte. Im Krimkrieg entwidelte er ein zum Theil mit dem von Rodbertus und Lothar Bucher aufgejtellten überein: . ftimmendes Programm: Der Zerfall der Türkei und Defterreich® bringt uns die großdentfche Republif und ein weites Kolonifationgebiet und das mwieber» erftandene Deutfchland vernichtet den ruſſiſchen Deſpotismus. Warr wollte Deiterreich als Schugmehr gegen Rußland erhalten wiffen und im italienifchen Krieg verfchärfte fich der Gegenfag zwifchen Laffalle und den Londonern in der Auffafinng der Lage. Marx und Engel waren in Vebereinftinmung mit einer mächtigen Bolköjtrömung dafür, dat Preußen den Defterreichern zu Hilfe komme, natürlich nit aus Liebe zu den bedrohten Dynaftien, fondern, weil fie meinten, die nationale Bewegung der Staliener werde durch die Einmifhung Napoleons gefälfcht, deſſen verwerflicher Caeſarismus durch die heuchlerifche Unterſtützung einer Volksbewegung befeftigt und fein eigent= liches Ziel fei die Aheingrenze. Laſſalle dagegen erklärt die zur Zeit in Deutfchland grafjtrende Franzofenfrefferei für reaftiionär. Die Franzofen ind ihm die Führer zum wahren Foriſchritt, die Träger des Freiheitgedanfeng, und nur Napoleon (dem er, nebenbei bemerkt, 1851 prophezeit hatte, er werde höchſtens ein paar Monate regiren) fei der Feind. Gin deutfcher Nationalkrieg gegen Frankreich würde Napoleon in jeinem Lande die höchite Popularität eintragen; und was für Lefterreich erkämpft werde, fei feines- wegs fürs deutfche Volk errungen. Er ftimmt mit Engel3 darin überein, daß e3 ein großes Glüd fein würde, wenn Deutjchland von Frankreich und

24 Die Zukunft.

Rußland zugleich angegriffen würde, aber Das gelte nur für den Fall, daß der Krieg von den Regirungen gemacht, vom Volle aber nicht gewollt werde; denn dann werde der Krieg alle Parteien einigen, die Dynaftien hinwegfegen und uns fo die Republik befcheren. Dagegen würde ein populärer Krieg das größte Unglück fein. Mißlinge er, fo würde er Fürften und Bolt durd gemeinfames Leiden fo innig verbinden wie nad) 1806; ein fiegreicher Krieg aber würde noch ſchlimmere Folgen haben. „Eine Befiegung Frankreichs wäre auf lange Zeit ba8 Tontrerevolutionäre Ereigniß par excellence. Wir haben wahrhaftig nicht nöthig, dem gefährlichften Zeind, den wir haben, dem deutfchen Spiepbürgerindividualismus, durch einen blutigen Antagonismus gegen den romanifch-jozialen Geift (gerade ber romanifche Geift ift fo unfozial wie möglich) in feiner Haffifchen Form, gegen Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen. Frankreich wird jegt bier ohnehin viel zu gering geichägt und viel zu fehr gehakt. Das ift eine Folge der napoleoniſchen Herrſchaft und des Unſinnes der diegelfchen Theorie: Frankreich fei daS untergehende Romanen: thum, ftecbe ab, fei pourrie, bil Revolution von 1789 fei der erſte Aus: bruch der Fäulniß und durch die Ausfcheibung der germaniftifch- (fo!) in: bivibualiftifchen Mdelselemente die Urfache des weiteren Unterganges.“ (Diefe auch von Bismard als richtig anerkannte, durch Gobineau und Ehamberlain neuerdings populär gewordene Theorie hat, fo viel ich weiß, zuerft Liſt aus: geſprochen in feiner Denkfchrift über den Werth und die Bedingungen eines Bündniſſes zwifchen Großbritanien und Deutichland.) Laſſalle betheuert, er biete Alles auf, die Regirungen, namentlich die preußische, zu „depopularifiren“ ; die Londoner, fhreibt er, hätten keine Ahnung davon, wie wenig das deutfche Bolt „entmonardifirt“ fei. Mit Leidweſen bat ers in Berlin gefehen, ſich über den „tollen Krönungochfenjubel unferer Bourgeoiie und Pfeudodemo- fratie” geärgert. Er rühmt jich, der Regirung einen guten Rath gegeben zu baben, nur um fie dadurch, daf fie ihn nicht befolgen fan, unpopulär zu machen.

Den Menſchen Laffalle, wie er fich in diefen Briefen giebt, muß man liebgewinnen. Bon der Lebhafteften Theilnahme für Mare und feine Familie erfüllt, hilft er mit Geld, fo viel er in feinen zerrütteten Verhältniffen kann, ſucht für den Freund möglichft Hohe Honorare herauszufchlagen, obwohl e3 ihm felbft wibderftrebt, fich geiftige Arbeit bezahlen zu laſſen, erträgt die der Berbitterung entfpringenden Launen und Wunderlichleiten des Berbannten mit Geduld, fucht ihn in zartefter Weife von Dummheiten zurüdzuhalten und begegnet feinem finfteren Mißtrauen mit hochherzigem Vertrauen. Laſſalle hat wahrlich nicht nöthig gehabt, den Ariftofraten zu fpielen, denn er war mit einer vornehmen Seele auf die Welt gefommen. Bor dem Verdacht, daß er in feinen Briefen pofire, ſchutzt ihn deren ſchlechter Stil, wie die Leſer aus den mitgetheilten Proben erjehen.

Neiſſe. Karl Jentſch.

=

Auf dem Heiligen Berge. 9

Auf dem Heiligen Berge.

> ift vielleicht ein Wagniß, heute, im Zeitalter der Heldenthaten bes Herrn Combes und des Sturmes im Glafe Wafler, des papiernen Proteſtes der brei badifchen Hochſchulen gegen die Mönchsttöfter, das Intereſſe eines größeren Kreiſes gebildeter Lejer für ein höchſt merkwürdiges Reſiduum einer längft vergangenen Epoche, für bie Mönchsrepublik des Athos, erweden zu wollen; doch bei ber bekannten Unabhängigkeit der Leitung und der Leſer der „Zukunft“ wage ich, frei zu fchreiben, wie ich denfe, auf bie Gefahr hin, mich bei manden Leuten in ben Auf des Dimfelmannes zu bringen.

Am fechzehnten Auguft verließ ich bei herrlichitem Wetter Konſtan⸗ tinopel; um die Mittagszeit des nächiten Tages erfchien vor ung die majeftätifche Kuppe des Heiligen Berges. Wir fuhren erft längs der DOftküfte, dann um die Sübfpige herum. Das Auge haftete an dem frifchen Grün, ben mwohlgepflegten Wein- und Delgärten, aus denen kokett die Heinen, weiß an- geftrichenen Häuschen der Einfiedeleien hervorgucken; dann erfcheinen größere Klofteranlagen, die Skiten, ımd von Zeit zu Zeit taucht eine ber gewaltigen Priefterburgen, Iwiron, daun Lavra, empor; und als wir nad der Weſt⸗ feite umbiegen, folgt ihrer eine ganze Reihe. Ueber der bewohnten und be- bauten Region fteigt grüner Wald ober Buſchwerk empor und ganz oben ragt weithin fichtbar die mächtige Felskuppe hervor, gekrönt mit der Kirche von Chriſti Verklärung. Es ift ein’Anblid, der vielfach an ſchweizeriſche Alpenlandfchaften, namentlih an die Ufer des Urnerſees erinnert.

Um fünf Uhr find wir in Dafni, der Hafenftation des Heiligen Berges. Ein Heiner Dampfer, von fchwarzgefleideten Mönchen bedient, fährt uns ent- gegen. Er bringt eine Deputation des benachbarten ruffiihen PBanteleimon- kloſters an Bord, drei Prieftermönde in ihrer ſchwarzen feierlichen Amts- tracht, auf dem Haupt die hohe griechifche Prieftermüte (da8 Kamilarkion), um die da8 lang herabhängende fchleierähnliche Perikalymma (Umfchlagetud) gefhlungen wird. Es find der P. Naslednit (Stellvertreter des Abtes) Nifont mit feiner goldenen Amtskette, der P. Paifij und P. Serafim, der Archontarios des Kloſters. Sie erfcheinen, um Frau von G., der Gattin des rufilfchen Konſuls in Salonifi, einen Ehrenbefucd) zu machen. Einer ber ruffifchen Freunde ftellt mich fofort vor und ich werde veranlaßt, meine Empfehlungfchreiben Hier abzugeben. In liebenswürdigfter Weiſe werde ich aufgefordert, gleich an Bord des Schiffes der Geiftlihen zu Tommen, und fo hauſe ich denn acht Tage in Panteleimon, in einer für mid) ganz neuen Welt.

Welcher Kontraft! Eben noch das unbefchreibliche Gewühl der Ko8- mopolis am Bosporus und nun diefe feierliche Stille der geiftlichen Tempel: burg. Unterbroden wird diefe Ruhe nur durch das leife Rauſchen des

26 | Die Zukunft.

Meeres, das Tag und Nacht immer wiederkehrende Läuten der Gloden und das Anſchlagen der Simantra (der Holzweder). Hier veriteht man das Wort Joſefs des Zweiten von Defterreich, die Glocken feien die Artillerie der Geiftlichleit. Aber wenn die Glocken verſtummen, dann tönt aus einer der zahlreichen Kirchen und Kapellen der herrlichſte vierflimmige Gefang der Möndgemeinde in das feierliche Schweigen der Nacht hinein. Am zweiten Tage meiner Anwefenheit war Agripnia zu Ehren des Heiligen Mitrofon Worinski: zwölftündiger Gottesdienft, die ganze Nacht hindurch. Nach) einigen Stunden der Ruhe litt e8 uns nicht länger; wir fliegen in bie feier fich erleuchtete Kirche hinab. Ich blieb über zwei Stunden dort, ganz im Bann diefes erniten, von fehönen Männerflimmen meifterhaft vorgetragenen Pfalmengefanges; er bildet den ſchärfſten Gegenfag zu dem näfelnden, un⸗ angenehmen Geſang der Griechen. Es ſcheint überhaupt, wenigſtens nach dem delphifchen Hymnus zu urtbeilen, daß diefe hochbegabte Nation in mufifalifcher Beziehung von ihren eigenen und ihres Gottes Apoll Leiftungen mehr eingenommen war, als ihr nad) billigem Urtheil zukommt. Gebildete griechifche Geiftliche geben übrigens heute unummunden die Weberlegenheit der Ruſſen auf diefem Gebiet zu.

Es war gerade große Faftenzeit vor Mariä Heimgang (Kimiſis ber Panagia); die DOrthodoren halten in biefer Hinficht Erftaunliches aus. Sie erfcheinen mir immer wie Spartaner neben uns vermweichlichten Wefteuropäern. Wohl oder übel mußte ich mitmachen. Nach ein paar Tagen aber hatte ich des graufamen Spieles „um meines ſchwachen Magens willen“ genug und bielt mich wader an unfere Konferven. Jarnis, mein griechiicher Begleiter und Gehilfe, der ſonſt in allen Kirchenbräuchen fehr fireng ift, ftand plöglich gegenüber dem Faftengefeg jenjeitd von Gut und Böfe, als ihn die „Luftig anzuſchauenden“ Konferven lodten, und er ſchwankte nur, ob er potted ham, salmon oder lunch tongue den Vorzug geben folle. Die Ruffen halten dieſe Faſtengebote viel ftrenger al3 die Griechen. Und doch find diefe Vor- [hriften, erlaffen für Kinder eines füblichen Himmels, deren Diät jie ent- jprechen, für die zur Fleiſchnahrung prädeftinirten Nordländer geradezu eine Grauſamkeit. Die Taufe durch dreimaliges Untertauchen hat Einn im heißen Syrien; im falten Rußland legt fie oft genug den Keim zu fünftiger Schwind- fucht oder anderer Krankheit. Auch das jtrenge Falten fehädigt die Geſund— heit. Manche älteren Mönche, der P. Naslednik voran, wurden durch diefes zwölftägige, mit langem NWachtgottesdienft verbundene Falten fo elend, daR fie fih ins Bett legen mußten. Die ſchwankende Gefundheit vieler höheren Prälaten des Oſtens hängt ficher mit diefen erbarmungloien Kirckengeſetzen zufammen. In willenlofer Hingebung aber unterwirft Jeder fich diefen harten Vorſchriften der Slofterregel. Der Ruſſe ift ein duch und durch

Auf dem Heiligen Berge. 97

religiöfer Menſch. Priefter und Laien wohnen dem Cottesdienft mit einer nicht genug anzuerlennenden Andacht bei, was wohlthuend gegen die Haltung der Griechen oder gar der Italiener abftiht. Typiſch ift das Verhalten der alten Bäuerin, von der die Gräfin Bagreff-Speranäfy erzählt. Ein Gelübde hatte die Alte getrieben, zum Heiligen Nikolaus nad Barletta zu pilgern. Dhne ein Wort außer ihrer Miutterfprache zu verftehen, wanderte fie durch Polen, Defterreich, Italien bis ans erfehnte Reifeziel. Papſt Gregor XVL empfing die merkwürdige Frau in befonderer Audienz. Das ift in der That ein Glaube, der Berge verjegt; und biefer Glaube ift eine der Quellen ber ungeheuren Kraft, die das ruſſiſche Reich von der fo innig mit feinem Volt und feiner Regirung verbundenen Kirche empfängt.

Dem Gefchichtforfcher bietet der Athos eine Fülle belehrender Ein- drüde. Hier ragt noch urälteites Chriftenthum in unfere Gegenwart hinein. Man macht fi meiſt ein viel zu ideales Bild von dem Leben und den Zu: ftänden der alten Kirche. Die Tendenz der Albigenfer und MWaldenfer, die Geſchichte zu fälfchen, hat auf die Reformatoren und evangelifchen Theologen abgefärbt. Die Vorftellung von der Baradiefesunfchnld der vorkonftantinifchen Zeit und der nachher immer ärger werdenden Verderbniß ift einer der größten geſchichtlichen Irrthümer; fie hat ung lange gehindert, die Wahrheit, daß die Kirche fo ziemlich mit jedem Jahrhundert fich mehr geläutert hat, zu erkennen. So redet man von ber Verknöcherung ber byzantinifchen Kirche und der Ver- fommenbeit ber heutigen orthodoren Religiongenoffenfchaften. Wbgefehen davon, daß biefe Urtheile meift auf unzulänglicher Kenntniß der. Thatjachen beruhen, ift die Kirche heute keineswegs verdorbener, al3 fie vor fünfhundert, vor taufend Jahren war. Im Gegentheil: die Zuftände jcheinen fo ziemlich die felben, vielleicht fogar befier geworden zu fein.

An den Feittagen in Panteleimon kann man uraltes Chriftenthum fozufagen mit Händen greifen bei den großen WPilgerfpeifungen und der Gabenverabreihung. In dem großen, etwa fünfzehnhundert Menſchen fafjen- den Speifefaal ißt zuerft die gefammte Mönchsgemeinde mit zahlreichen Laien, an der Spige der alte ehrwürdige Igumen im prachtvollen Feſtgewand, im violetten, mit breiter Goldftiderei verbrämten Sakkos, auf der Bruit ben Medſchidjeh⸗Orden erfter Klaſſe mit dem Wladimir- und Annenorben. Nach dem Eſſen ordnet ji der Zug zu kurzem Dankgottesdienft in der gegenüber liegenden Kirche, voran der Klerus (Hieropresbyteri und Hierodiafoni), dann die Maſſe der Mönche, darauf die Laien und zum Schluß der Abt im Ponti- fikalſchmuck. Sobald der Abt in der Kirche verfchwunden it, macht jich der rührige Großfellerer, umgeben von einem zahlreichen Etabe von Untergebenen und freiwilligen Hilfsfräften, daran, die langen Tiſche neu zu deden. Auf jeden Plag kommt eine Schüſſel mit Suppe, eine zweite mit Fiſch, Trauben,

28 Die Zukunft.

Käſe, dazu ein balbliterhaltiger Weinkrug. Inzwiſchen haben fich die Pilger, Raſophoren und Armen in langen Zügen vor dem Hauptthor des Kloſters gefammelt und lagern bier, Manche zerlumpt und zerfegt, Andere, troß äußerfter Armuth, mit einem gewiflen Anftand gefleidet und oft mit einem unverlennbaren Ausdruck aufrichtiger, Frömmigkeit. So mögen die Armen außgefehen haben, die Ephraim von Antiochien täglich in Daphne befuchte. Einem Maler müflen diefe Geftalten unerfchöpflichen Stoff gewähren. Stöde tragen jie faſt Alle. Ungefähr fo denke ich mir die Theologenſchaaren der libyſchen Wüfte, die den Erzbiſchof Theophilus von Alerandrien zu glauben zwangen, daß bie anthropomorphiftifchen Ausdrüde des Alten Zeitamentes über Gott buchftäblich zu nehmen feien, und feinen im Glauben ſtarken Neffen Cyrill fo eifrig bei der Ermordung ber edlen Philofophin Hypatia unter= ftügten. Einer der leitenden Prieſtermönche fommt heraus und fragt: Habt Ihr ſchon gegefien? Ein einftimmiges Nein ift die Antwort. Die ganze Nacht haben fie gebetet und gefungen; jett ift eg elf Uhr. Nun ftrömen bie acht⸗ hundert Mann in den Saal. Jeder findet Plag; Alte, Schwache und Schüchterne werden freundlich” von den Saalordnem an den PBlag gewiefen. Bor dem Abichied wird „das große Almofen“ gegeben, wobei ‚Jeder ein Stüd Brot und einen Chirek (1 Fr. 5 ct.) erhält. Iſt es nicht, als fühen wir Johannes den Barmherzigen, den Erzbifchof von Alerandrien, vor uns, wie er die vor den Perſern flüchtenden Syrer fpeift und befchentt? Auch der mwunder- vollen Schilderungen von Gregorovius mag man hier gedenken, wie Papft Gregor I. unzählige Pilger in feine Fremdenherbergen aufnimmt und durch feinen Klerus fpeifen läßt. Die Kirche hat damals die fozialen Pflichten des Staates auf ji genommen. Die rufjifchen Klöſter des Athos, Panteleimon und Sankt Andreas, erfüllen diefe Pflicht noch heute. Darum machen fie fo gewaltige moralifge Eroberungen. Sie haben den Griechen gegenüber den Beweis des Geiſtes und der Kraft für fih. Das Ammenmärchen der Griechen, wonach Panteleimon eine ruſſiſche Zeftung und die Mönche ver⸗ Heidete Offiziere und Soldaten feien, ift fo kindiſch einfältig, daß viele unferer Zeitungen e8 natürlich gläubig nacherzählt haben.“) Nein: Panteleimon ift eine höchſt friedliche Feitung, in der man kaum eine Piftole finden wird; aber es ift eine Burg des Glaubens. Unter den einfahen Mönchen find allerdings viele ehemalige Soldaten; aber fie haben num der Welt abgefagt. Unfer perfönlicher Diener, ein ehemaliger Artillerift, antwortete mir, als ich ihn nad) feiner Heimath Wijatla fragte: „Seit ih Andronif (fein Mönchs- name) bin, ift meine Heimath Panteleimon und die Speta Gora.“ Andronil

*) Ein hocdhgeftellter, einjt wegen feiner freien Geſinnung fehr gefeierter Diplomat fagte mir einmal, feine Preſſe fei chauviniſtiſcher und ſchlechter unter- richtet über auswärtige Verhältniffe als die deutiche.

Auf dem Heiligen Berge. 29

macht nur die gewöhnlichften Arbeiten, fegt, fcheuert, Hilft in der Küche; und doch: welcher Ausdrud ftiller Seligkeit leuchtet aus feinem Antlig, wenn er an "den Feittagen im feierlichen Mönchsſchmuck genan wie P. Xenophon (Furſt Wiafimski) mitfingt und mitamtirt! Welche Höflichkeit und Feinheit des Benehmens zeigt diefer fimple Soldat! Eine das Innerſte durchdringende Frömmigkeit bringt bei ganz einfachen Leuten der ıumteren Stände eine Herzensbildung hervor, um bie fie oft Vornehme beneiden könnten. Das lehrten uns fchon die Täuferbauern; und ihnen gleichen diefe frommen Soldaten mönche auf dem Athos.

Ein etwas fchulmeifterlicher Rezenfent hat mich als romantifchen und unflaren Kopf wegen meiner Boreingenommenbeit für die Klöſter mitleidig belächelt. Nun: Ruflifon ift ein Inſtitut, defjen Einrichtung und Betrieb jeder wirthichaftlihen Kapazität des neunzehnten und zwanzigſten Jahr: hunderts Ehre machen würde. Nicht romantiſche Träumerei, fondern fühle Berftandesflarheit führt hier das Steuer. Im Ganzen leitet der Igumen bes ruffifchen Kloſters eine geiftliche Armee von über 2000 Köpfen; dazu kommen noch ungefähr 400 Handwerker (Schneider, Schmiede, Zapezirer u. ſ. w.) Ohne ungewöhnliche adminiſtratives Gefchid wäre ein fo großer und komplizirter Organismus nicht im Gang zu halten; übrigens erfordert ſchon allein die tägliche Nahrung und die Kleidung diefer Mönchsfchaaren große Mittel. Freilich ftellt die Woplthätigkeit der reichen und frommen Ruſſen der Kloſter— leitung große Summen zur Verfügung, die aber bei einer an die alte Kirche erinnernden Gaitfreiheit auch verbraucht werden.

Ich habe es immer als einen Nachtheil der orthodozen Kirche gegen- über der fatholifchen betrachtet, daß ihre Dignitäre lediglich aus dem Mönchs- ftande gewählt werden. Wer zwanzig Jahre als ftrenger Aſket oder Ein- fiedler auf dem Athos gelebt hat und nun plöglich, wie Silvefter, auf den Thron von Antiochien berufen wird, begeht in feiner Weltunfenntnig und feinem befchränftem Fanatismus unſägliche Thorheiten. Silvefter brachte es denn auch glädlich dahin, daR faft alle Primaten von Aleppo zur römischen Kirche übertraten. Doc ich urtheile jest weſentlich günftiger über diefe Mönchsbiſchöfe. Zur Erwerbung von Weltfenntnig trägt wefentlich die Ein- richtung der Metochia bei. Wer fünf, zehn oder mehr Jahre nach Konftantinopel, Mostau oder Odeſſa als Leiter verfegt wird, lernt die Welt und die Ge- Thichte in einer Weife kennen, daß er nachher auch einen hohen und ver- antwortungvollen Poften mit Ehren einnehmen kann.

Hier will ich für heute fchließen. Ich wollte nur, unter dem frifchen Eindrud, von diefen machtvollen ruſſiſchen Schöpfungen auch deutfchen Leſern einen Begriff zu geben verfuchen.

Berg Athos. Profefior Dr. D. Heinrich Gelzer.

S

30 Die Zukunft.

Sranzöfifche Häufer.

SR das Schnedenhaus das Werk des Thieres ift und feine Form wieder⸗ giebt, fo follte da8 Haus ftetS der Ausdrud der Perfönlichkeit fein, die es bewohnt. In Paris giebt e8 viele Häufer diefer Art.

In den großen Schlöffern find die Eindrüde gemiſcht. Yontainebleau erinnert zugleich an” Franz den Erften, an Heinrich den Vierten, an Ludwig den Dreizehnten und an Napoleon, die Alle hier rejidirten, an Katharina von Medici, Anna von Defterreich, Frau von Maintenon und Marie Antoinette, die lange das Palais bewohnten, an Chriſtine von Schweden, die hier zu Soft, an Pins den Siebenten, ber hier Gefangener war. Man wird ba genöthigt, fein Intereſſe auf eine einzelne Perfönlichleit zu richten. Und bei einem alten Napoleonverehrer verdrängen dann unmwillfürlich die Erinnerungen an den Kaiſer alle anderen. Da find die mit Abbildungen aus dem alten Rom gefhmüdten Vorgemäsher, durch die er täglich ging; fein Badezimmer mit Gemälden auf Glas, die früher das Marie Antoinettes ſchmückten; fein Arbeitzimmer mit den ftrengen Möbeln; fein Schlafzimmer mit dem fchönen, furzen Bett; das Keine Gemach, wo er feine Thronentfagung unterzeichnete (fein eigenhändiger, immer und immer wieder verbefjerter Entwurf des Ab— dankungaktes hängt hinter Glas in der Bibliothefgalerie)., Herrlich ift der Garten, den er durch die hohen Tenfter ſah. Merkwürdig, wie er, ber felbft jo wenig Herz hatte, Herzen zu gewinnen verftand. Noch heute geht ein Zauber. von Allem aus, worauf Hand oder Auge des legten Imperators ruhten. Am Stärfiten wirkt diefer Zauber wohl in dem Schloßhof, zmifchen den niedrigen Flügeln, wo er 1814 von feinen Garden Abfchied nah.

Die Pruntpaläfte, die in unferen Tagen von Privatleuten in Paris gebaut werden und die mitunter viele Millionen verfchlingen, fpiegeln mehr indireft das Weſen des Eigenthümerd und geben von ihm doc ein beijeres Bild, als es in Staatsfhlöffern möglih iſt. Prachtbauten zeigen, worauf der Eigenthümer Werth legte und worauf fein Ehrgeiz gerichtet war, felbit wenn er nur geringen Theil an der Arbeit des Architekten und des deforirenden Künftlers Hatte. Ein Beifpiel ift das prachtvolle Haus des Grafen Boni de Gaftellane, das ſchön und frei an der Kreuzung zweier Alleen dicht beim Bois de Boulogne liegt. Der Graf, dem feine Frau, die Tochter des be- kannten Miliardärd Jay Gould, eine Riefenrente als Mitgift einbrachte, hat ungeheure Summen für die Ausjtattung des Haufe verwandt, zu deffen Vollendung dann im Augenblid die Mittel doch nicht reichten. Ein hübfcher, eleganter junger Herr, der den Fremden gaftfreundlich zur Belichtigung des Palaſtes einlädt und ihm auf Wunfch ſelbſt als Führer dient. Zunächſt fiel

Franzofiſche Gäufer. | 31

mir die ganz ungewöhnlich breite innere Treppe aus hochrothem Marmor mit weißen Adern auf; wohl die fhönite in Frankreich. Sie theilt ſich auf balber Höhe in zwei herrlich geſchwungene Abfäge mit Gelänbern aus ver⸗ goldeter Bronze, erinnert in ihrer Form an eine Treppe in Zrianon, wirkt aber durch die Schönheit des Materiales ftärker. In ben Gemädern bat jebe Tapete und jedes Möbel eine eigene Geſchichte. Faſt Alles ftammt aus den Konigſchlöſſern des alten Frankreich. Jedes einzelne Stüd des Mobiliars ift fignirt, von einem der Möbeltifchler ausgeführt, die im achtzehnten Jahr⸗ hundert für Könige und Fürften arbeiteten, und jedes ift einzig in feiner Art, eine piece unique, nie vom Kunſtler für irgend einen geringeren Käufer wiederholt. Da Alles aus der Zeit der Megentfchaft, des fünfzehnten und jechzehnten Ludwig ſtammt, paflen Mobiliar, Tapete, Bilder und Zeichnungen wundervoll zu einander. Das Schlafgemach der Gräfin kann ſich dem jeder franzöfifchen Prinzefjin aus jenen Tagen vergleichen. Im Badezimmer des Grafen find alle Wände mit Aquarellen und Zeichnungen der erften franzöfifchen Meifter des achtzennten Jahrhunderts bededt; fie ftellen Frauen dar, deren Koſtum oder Koftümmangel meift dem genius loci angepaft ift. Der Raum gleicht dem Badezimmer Napoleons nicht mehr als Graf Boni de Caftellane dem Kaifer. Das ganze Haus zeigt die Spur eined Reid thums, der ben Prunk Tiebt, fich aber auch redlich bemüht, das Beſte zu er- werben, was für Geld zu haben ift. Deutlich ſichtbar ift die Vorliebe für die heiterfte und frivoljte Epoche franzöjifcher Kunft.

Seit die Schäge, die im Künftlerheim Edmonds de Goncourt auf- gefpeichert waren, in alle Winde zerftreut find, giebt e8 in ganz Paris wohl faum ein Haus, das Geift und Gefhmad feines Beſitzers jo klar wider- fpiegelt wie Anatole Frances Billa Said. Man fagt noch zu wenig, wenn man die3 Häuschen ein Mufeum nennt. Jedes Stüd darin ift fo auserlefen und außerordentlich wie die Einfälle des Beligerd. In den vielen Tleinen Stuben der drei Stodwerfe, auf der Treppenflur: überall, auf jedem Fledchen, ein werthvoller Sunftgegenftand. Ganze Maffen altfranzöfifcher Raritäten; Stoffe, Hausgeräth, Möbel und Bilder. An diefen Kaminen kann der Be trachter Frankreichs Gejchichte ftudiren. Da ift einer, der aus den verblichenen und deshalb befeitigten Mofaikfteinen der Borgiafäle des Vatikans gefügt ward. Und nicht nur römifche, nein, auch die feinften griehifchen Alter: thümer und Sunftgegenftände jieht man in großer Zahl. Ein marmorner Eros ftammt aus ber beften Zeit. Tanagrafiguren aus Athen, dem Pelo— pones und von den Inſeln, herrliche Sachen, die von den Schägen des Louvre nicht in den Schatten geftellt werden. France hat felbjt Alles in Hellas ge— ſammelt, auch die Mappen mit Meifterblättern franzöfifcher Künſtler gefüllt. Dem Beliger macht e8 Freude, fein Haus zu zeigen; jedes Ding hat hier

. 82 Die Zukunft.

nicht nur feine Gefchichte; der Führer knüpft am jedes noch allerliebfte Ge⸗ ſchichten. Niemand erzählt fo gut und fo gern wie er. Bine Gefellichaft fann er einen ganzen Abend lang unterhalten, ohne einen Augenblid zu ermüben; Scherz, Satire, Ironie und Herzlichkeit mifchen fich, je nach feiner Stimmung, in verfchiedenen Dofen zu einem Plaubertalent von feinftem Reiz. Wenn eine Dame, der er nichts abzufchlagen vermag, ihn bittet, läßt er fich, nad einigem Weigern, fogar herbei, feine Gedichte vorzulefen.

In feiner Bibliothek ftehen die fchönften Werke der Vergangenheit in geihmadvollem Einband; moderne fucht man vergebend. Die Riefenballen neuer Bücher, die ihm täglich ins Haus gefchidt werden, beachtet er faum; viele Padete werden überhaupt nicht geöffnet, fondern gehen, wenn fie eine Weile gelagert haben, an einen guten Freund hinten in der Provinz, der ſich jo eine ftattliche Bibliothek fammeln kann. Auf die Frage, weshalb er jo wenige moderne Bücher Ieje, antwortet France, feine Zeitgenoffen feien ihm zu nah verwandt, als dar er von ihnen fonderliche innere Bereicherung hoffen dürfe. „Sch lerne mehr von Petronius als von Mendès.“

In feinem Geift wie in feinen Haus ift Alles mit BibelotS vollge- flopft. Memoiren nnd Dokumente hellenifcher und franzölifcher Kunſt ſtoͤbert er auf und durch ſeine Werke zieht ſich die ſtete Erinnerung an Bücher, die außer ihm Niemand kennt, an ſeltſame, ſchnurrige Dinge, die er mit der Beitfarbe im Gedächtniß bewahrt. Der Gelehrte verleugnet fi nie in dem Dichter; der Sammler und Bücherfreund ift in feinen Romanen und Novellen zu fpüren. Die Leidenfchaft ift nicht feine Sade. Nur in der Erzählung „Die rothe Lilie“ kommt fie zu Wort. Sonft berrfcht in feinen Büchern die reinfte Intelligenz. Er führt den Leſer auf eine Höhe und läßt ihn in einen Abgrund von Fronie hinabfchauen; jelbit der Schwindel wird da zum Genuß. France darf jo hoch hinauf zu Klettern wagen; er hat feinem Geift folide, Fräftige Nahrung geboten. Alles, was er fchildert, ift echt, viels leicht, weil er jelbft in feinem Haufe von lauter echten, alten Saden um⸗ geben ift, an denen Farbe und Duft verflungener Zeiten haftet. Wer feine Pucelle d’Orl&ans las, muß gemerkt haben, daß hier Quellen entdedt, Töne, Wortfügungen, Denkarten und Nuancen des Fühlens gefunden jind, die fein früherer Bearbeiter des Stoffes fo zu bewahren verftand... Einen nicht unweſentlichen Theil der Literarifchen Perfönlichkeit diefes Dichter8 Iernt man erft fennen, wenn man ihn in feinem Heim walten ſah und erzählen hörte.

Kopenhagen. Georg Brandes.

Ds

Der Künftler als Damenfchneider. 33

Der Rünftler als Damenfchneider.

er in unferer erlöfungfüchtigen Zeit zu übertriebener Bedeutung gelangte

Nugfünftler wirkt nicht fo fehr durch artiftifche Qualitäten wie durch eine überzeugt vorgetragene foziale Ethik. Trotzdem die rein praftifchen Refultate feiner Arbeit nicht über die Einflußfphäre der Ynduftrie und des Gewerbes hinausreichen, fühlt er jih ganz als Exponenten unklar drängender Kulturwünfce, dünkt fich einen Propheten, während er bürgerliche Wohnräume mit Tiſch, Stuhl und Teppich verforgt, und ift fanguinifch überzeugt, daß ber Geiſt bald reif fein wird, um das neu ihm bereitete Heim beziehen zu fönnen. So falſch angebracht dad Pathos, das er mit allen Ethikern theilt, an den Ergebniflen der Werkftattarbeit gemeflen, oft wirkt: es weift entfchieden auf’ ein waches ideales Bedürfniß. Und daneben freilich auch ein Wenig auf Mangel an Geftaltungstraft. In der unfruchtbaren Gegenwart genügt aber diefes mit reinem Herzen errichtete deal, um zum Sammelpuntkt auch folcher ethifchen Probleme zu werden, die im Grunde nichts mit bildender Kunft zu thun haben. Dadurch gewinnt die angewandte Kunft nur noch mehr an Preftige. Sie fungirt als Anwalt wichtiger, wenn auch heterogener Kultur⸗ tendenzen, weil ihr deal heute das einzige auf wirthichaftlicde Wirklichkeiten gegründete ift.

Nur kann es nicht ansbleiben, daß der Kunſtler unter dieſen Umftänden an bildbendem Vermögen Manches einbüßt und in Aufgaben gedrängt wird, die auf artiftifchem Wege nicht zu Löfen find, daß die hoch in Idealitäten verftiegene Anfchauung dee Dinge fih den fehr profanen Gebrauchszwecken des erzeugten Kunſtgewerbes nicht fügen will und der mehr ethiſch als fünftlerifch, mehr künſtleriſch als gewerblich Schaffende nicht realen Tages- bedürfniffen mit nüchterner Logik Ausdrud ſucht, ſondern kunſtlich edlere Bebürfniffe in diefe langweilige Welt hineindichtet, um fo höheren Zweden mit priefterlicdem Ueberfhwang dienen zu können. Daß Künftler, felbft gewerbliche, ihr Ziel fo hoch wie möglich fuchen, ift nur erfreulich, wenn es bildend geſchieht. Denn eine werthvolle konkrete Kunftform ift ein Kultur- refultat, dem folgende Gefchlechter nicht ausweichen können; bedenklich wird es, wenn die Forderung zur Hälfte und oft zum noch größeren Theil in theoretifcher Ethik fteden bleibt. Mit aller Kraft verfuchen die Künftler zwar für ihre radilalften Wünfche eine fefte Baſis in der Wirklichkeit zu finden; doch ift viel Selbittrug im Spiel: es fehlt an genialer Nüchternheit des Urtheils und die lebendigen Bebürfnifje nehmen ftet3 den Weg, der nicht in Betracht gezogen wurde, weil er den von junger Thatenluft Aufgeregten fo ſchrecklich banal erſchien. Anf dem Gebiete der wirthichaftlich bedingten Kunft ift die Materie immer ftärker als der Geift; denn das Künftlerifche

5

34 Die Zukunft.

ift hier nicht Selbftzwed, fondern nur ein NRefler der hohen Kunft, vor Alleın der Baukunſt. Wenn der Weg, wie in der Gegenwart, einmal von der anderen Seite auß betreten wirb: durchs Kunſtgewerbe zur Ardjiteltur, fo hängt das Schidfal der in diefem Sinn wirklich Aber ihren unmittelbaren Arbeitkreis hin⸗ aus bedeutfamen Bewegung davon ab, ob fie bildend zu einer Baukunſt ge= langen kaun, um fpäter, rückwirkend, von erreichter Höhe herab, das vorher Bollbrachte zu fichten und zu organifiren. Aus Sulturtheorien erhebt ſich aber am Lesten eine große Baukunſt; der hohen Forderung fteht noch nichts gegen- über als eine fchöne ornamentale Detailkunft und vielverheißende Handwerks⸗ arbeit; und für ein logifches Fortfchreiten fcheinen felbft Dem, der bisher gläubig folgte, die Zeichen ungenügend. So tragifh nun der Anblid ift, wenn ein Verkunder neuer religidfer Sittlichfeit am rohen Leben zerfchellt, fo komiſch wirb es, wenn ber Konflilt moderner Möbel oder neuer Tapeten wegen ftattfindet. Der Künftler, der Prophet und zugleich Schreiner oder Schloſſer ift, hebt durch ſolche ſeltſame Zweieinigfeit das eigene Wirken auf, muß fih als Handwerker mit okkulter Aefthetil abgeben und als Priefter mit den unedlen Dingen der Werkſtatt.

| Unter diefem inneren Widerfpruch leiden auch die mannichfachen, auf eine fünftlerifche Reformirung der Frauentracht zielenden Beftrebungen. Unſere Nugfünftler wählen zwei Wege zu biefem Ziel; und danach, für welchen fidh Feder entjcheidet, Tann man die Bedeutung der Individualität ermeflen. Die Einen erkennen im modiſchen Frauenkleid das Ungefunde und Stünftliche, empfinden aber doch das ſinnlich Anmuthende einer geſchmackvoll gewählten Zoilette und ſuchen die fittlich-hygienifchen Tendenzen ber Reformvereine mit pariferifcher Eleganz zu vereinen, wollen ein Bischen ethifch reformiren, doch ohne den cocottenhaften Reiz ganz aufzuopfern. Und daneben möchten fie die moderne Ornamentik auch der Frau auf den Leib fehneidern. Diele nur in der Großftadt möglichen Künftler fehen nicht ein, daß bie Befchäftigung des Mannes mit der Yrauentoilette etwas ganz Unfünftlerifches ift. Denn wie fehr die Tracht auch Abbild der geltenden Lebensformen ift, wie mannichfach fie mit Aefthetil und gutem Geſchmack zu thun hat: fie ift nicht ein Produkt bildender Kunſt. Die Konftruftion eines Möbels Tann, fofern das Ges füge des Holzes durch Kunftformen anfchaulid; gemacht ift, eine That reinen Kunftfinnes fein. Das. Artiftifche ift hier das Selbe wie in der Baukunſt: das Streben, Naturkräfte durch ornamental ſich darftellende plaftifche Gleichniſſe überzeugend zu erflären. Eine Bethätigung Fünftlerifchen Schaffens ift nur da, wo der Bildende erfenntnißreich anfchaut und fich über die groben Willens- triebe erhebt. Der legte Zmed aller Kleidermoden der Gegenwart ift aber im Wefentlihen auf animalifche Initinkte gerichtet: auf dem Wege über eine gefällige Wejthetil zielt die Kleidung der Frau, fo meit jie jchmüden fol,

Der Künftler als Damenfdjneibder. 35

anf ben Gefchlechtstrieb de3 Mannes. Im Sinn der Kunft find die hier waltende Abficht und Wirkung Höchft gemein. Go betrachtet, gilt es auch gleich, ob die Tendenz poſitiv oder negativ thätig if. Das puritanifche Berbergen der Leiblichkeit umter dien, unförmig zugefchnitenen Stoffen ift eben fo kunftfeindlich, wie es die halben Berfchleierungen und Entjchleierungen find. Das Frauengewand Tann nur mittelbar Anlaß zu künftlerifchen Senfationen fein. Die Schönheit des Faltenwurfes zeigt ſich beim Schreiten, erft die Bewegung löſt, durch das Gegenfpiel treibender und beharrenber Kräfte, ornamentale Eigenfchaften des Stoffes aus und durch eine gefühlte Erkenntniß wird die Anfchauung artiftifch befriedigt... Die Dealer und Bildhauer benugen in ihren Werken das Gewand zur Charalterifirung der Förperlihen Dynamis oder zur Volie eines pfüchifchen Ausdruckes, bilden es in jedem Theil jo, daß der Wille des befeelten Körpers in hunbertfacher Weife erläutert wird, wählen Farben, die den Gehalt eines Borganges, durch bie ihnen eigenthümlichen Gefühlswerthe, erhöhen. Alles dient bier der Erkenntniß, weift auf die herrſchende Idee. Sole Formen und Farben der Kunſt find aber denen der Mode nicht im Beringften ähnlich). Wollte der Künftler eine Fran nach feinen Runftprinzipien Heiden, fo wlrde er lächerlich werben. Auf dem Theater kann das Kleid Stimmungfaltor fein, in den Dienft einer Kunſtidee treten und es wäre gut, wenn moberne Schaufpieleriunen Das fo genau wüßten, wie etwa ihre japanischen Kolleginnen, oder mr, wie Klara Ziegler e8 in ihrer Art wußte. Von der Gewandpofe diefer Dellamatorin führt der Weg direkt zur Xoie Fuller, deren Tanz von ganz Fünftlerifhen Prinzipien ausgeht. Der nadte Körper ift dem pathe- tifchen Ausdrud nicht gewachſen; die großen Linien des zurädflatternden Gewandes geben erft die Impreſſion des Eilens, das Zurüdfallen in die ruhende Vertikale erhöht den Ausdrud tragifcher Exftarrung. Die fprechende öynamifche Form gehört zum Stil der großen Tragoedie; eine Thatſache, die die Griechen wiederum viel beſſer wußten al8 wir. Im profanen Leben wird aber nicht Theater gefpielt; dort gelten andere Bedingungen. Das Gebrauchstleid hat fehr realen Zweden zu dienen und eine Yrau, die fi ihren Stimmungen gemäß Heiden wollte, um für den erfenntnigreich An⸗ fchauenden ftet8 eine rein artiftifche Erfcheinung zu fein, müßte in jeder Minute Komoedie fpielen und SHavin ihre8 Gewandes fein.

Das moderne Gefellichaftlleid ift für den Künftler ganz unbrauchbar und nur die Arbeitfleidung giebt Möglichkeiten der Verwendung in Malerei oder Skulptur. Wer die Schönheiten zu entdeden vermag, die in der Werk⸗ ftatt, auf jedem Arbeitplag zu finden find, wird erfennen, welden Theil das Arbeitkleid daran hat. Wo e8 fich rein erhält, ift es dem Wechſel der Zeiten kaum unterrworfen. Eine Kornſchwingerin, wie Courbet fie malte, kann im

3%

86 Die Zulunft.

alten Judäa nicht fonderlich anders ausgefehen haben; einen Steinträger könnte man ſich ins Mittelalter verfegt denken, ohne dag das Milien dadurch geftört würde. Fabrilarbeiterinnen, die im Straßenfleid elende proletariiche Erfcheinungen find, haben in Augenbliden, wo fie fich in ihrer Werktracht

felbftvergejien der Arbeit widmen, etwas Monumentales. Jedem, den das Leben durch die Stätten der Bollsthätigfeit führt und der dort unerfchaute Schöndeiten aus dem Schmutz ſich erheben fieht, erzeugt ſolche Anfchanunglehre verächtlihe8 Staunen über die BVerkegerungen der Kunft eine Millet oder

Meunier. An fi ift die Arbeitfleidung natürlich nicht fünftlerifch ; dag Be⸗

deutende Tiegt nur in der Betrachtungweiſe des Anſchauenden. Die Ueber-

einftimmung von Handlung und Kleid, die Willigkeit, womit da8 Gewand

jeder zmedoollen Abficht gehorcht und charakteriftifche Tchätigkeitftellungen

dynamisch erflärend Das ift ornamental umfchreibt: darin liegt die Schönheit. Das Straßenfleid hat ganz andere Prinzipien. Es ift nicht Mittel,

fondern Hauptfache, nicht Folie, fondern Selbſtzweck; es erleichtert nicht die Er⸗

kenntniß, ſondern erjchwert fie mit vollem Bemußtfein, denn ber Zwed der

Toilette it, dem gefchlechtlich intereffirten Mann mit äſthetiſch vorgeftaptuen Kügen gerade jene Ruhe des objektiven Anſchauens zu rauben, . Die Formen

des Korpers werden willfürlich verftedt oder hervorgeboben. Die Ablicht geht

efida dahin, die Huften mit ihrer intereſſanten Umgebung ‚recht. zur. Schau

zu ftellen oder, durch den anreizenden Kontraſt hellen, fledenlofen Schub:

werkes mit “tem ſchrutzigen Boden, Blich und. Bhontafe auf. has. xeinlic

verhüllte Reich, der "Mfterkleider zulenten. Die Tendenz ift immer aufs

grob Sinnliche gerichtet, wenn fie fich auch äftbetifcher Neize bedient. Ein

lang nadfichleppender Mantel wird auch auf der Straße ben Eindrud des

Pathetifchen machen; hier aber ift diefes Mittel mit anderen, der Kofetterie dienenden Eigenfchaften ſchlau verbunden und der Gegenfag zwingt da8 männ=

liche Verlangen, den Weg durch die fünftlerifch angeregte Phantafie zu nehmen,

ein Vorgang, der nur geeignet ift, noch mehr zur Begehrlichleit zu treiben.

Man findet in der Toilette gewiß alle Theile, die der Künftler für höhere Zwede benugen Tann, auch bemächtigt die deforative Kunft fich jedes Details

und Materials; da8 Alles eint ſich aber nicht fonthetifch, fondern bleibt im

beften Fall eine gefchmadoolle Anhäufung ſchmückender Werthe, ein Flug

arrangirtes PBotpourri von Deloration= und felbft Kunftformen.

Nur die Frau hat einigen Anfprud, in Zoilettenfragen künſtleriſch vorzugehen. Sie fieht fich, Künftlertemperament von Natur, felbit ein Wenig al3 Erfcheinung, alfo objektiv, wenn fie ſich ſchmückt, und ftudirt die Schmud- forderungen ihrer individuell determinirten Schönheit ungefähr fo mie der Lyriker feine Seele. Wenn fie alle erreichbaren Hilfsmittel, alle charakterifiren- den Dualitäten de8 Materiales ihrer Erfcheinung gemäß wählt, Farbe und

Der Künitler als Damenſchneider. 87

Schnitt des Kleides nach der Eigenart ihres fihtbaren Wefens ſtimmt, fo ift in diefem Alt unverhüllteſter Eitelkeit doch auch ein Stüd Artiftenthum enthalten. Der Dealer, der eine Frau nad gleichen Prinzipien Heibet, fie alfo etwa behandelt wie ein Gemälde was freilich immer eine Maslerade giebt —, bethätigt fich nicht unkunſtleriſch; feine Befchäftigung wird aber fofort problematifch, wenn er fich den Forderungen der Nachfrage nur zum Theil beugt, für Magazine arbeitet, Kleider auf Borrath entwirft, eine Folie ſchaffen Hilft, ohne zu wifjen, went fie dienen fol. Der Künftler diefer Art gehört halb der Mode, halb einer äfthetifch-bygienifchen Reformidee; der Kunſt aber nicht im Geringften. Er kann nichts fein als fezeffioniftifcher Damenſchneider. Manchmal ift er jedoch nicht einmal Das, fondern nur Applikateur moderner Ornamente. Auf da8 Weſen der Tracht gewinnt er nie Einfluß, weil die Bedingungen ihres Entftehens nicht äfthetifcher Art find.

Ganz anders tritt die zweite Gruppe unferer Nutzkunſtler dem Problem entgegen. Sie fest fi zufammen aus den Nevolutionären, den primären Begabungen, während jene Umgeftalter der Mode im Wefentlichen auch als Künftler Nachempfinder find. - Dem Maß ihres Talentes entfpricht die Prägnanz der ethifchen Forderung und darum zeigen ſich hier die Widerfprlche zwifchen dem profanen Zwed ihrer Arbeiten und deren ibealen Tendenzen bejonder8 deutlich. Dem unfünftleriichen Problem der Frauentracht gegen- über ift ihre Haltung beſonders charakteriftifh. Da ihre Kulturwünfche alle Rebensformen umfchließen und das ganze Dafein unter eine univerfale Syn- thefe bringen möchten, fo ftellt fih ihnen die Aufgabe, wie die Sulturträger zu Heiden feien, als fehr wichtig dar. Was ihnen fehlt, ift das Bewußtſein, daß viele äfthetifche Kulturwerthe nie von Künftlern geprägt werden, fonbern aus fozialen Rothwendigkeiten, aus den im einheitlichen Empfinden fich Härenden Kunftinftinkten der Maſſe wie von felbft hervorgehen. Dieſen organiſch lang⸗ famen Entwidelungen greifen fie felbftherrlich vor und diktiren Formen, deren Werbebedingungen über Jahrhunderte vertheilt find. Sie ſchaffen zuerft das Kleid umd denken, eine Kultur werde dann fchon hineinſchlüpfen.

Ihre Art, die Frauentracht anzufehen, ift nun wahrhaft fünftlerifch. Aber nicht der bildende Künftler fchaut hier an, fondern der Kulturpoet. Schön ift jedes Gewand einer vergangenen Epoche oder eines Landes, fei es Bollstracht, vom religiöfen Kult bedingtes Kleid oder das Zweckkleid des Krieges, fobald es uniform auftritt; doch nicht durch äfthetifche Werte die wirken daneben —, fondern, weil es anfchauliches Produkt einer fozial gewachſenen Lebensform ift, weil ein Stüd Zeitgeift deutlich darin erkannt wird und jede reine Erfenntniß des unter dem Zwang einer Geſetzmäßigkeit fich, vollziehenden Lebenswirfens Kunſtgenuß verurfacht. An fich find viele Volkstrachten der Vergangenheit und Gegenwart häflich, Fommen für die

38 Die Zukunft.

Kunſt gar nicht in Frage, weil fie die Formen des Körpers verumftalten; trotzdem fprechen fie lebhaft an umb die Aeſthetik tritt zurüd hinter die poe⸗ tifch= philofophifche Betrachtungweiſe. Doppelt ift ber Kunftgenuß, wenn fih die Kulturerklenntniß mit reiner Schönbeitfrende vereinen kann, wie vor griechifchen Gewändern. Diefe Kulturftimmung bes Kleides empfinden jene Künftler fehr ſtark und rein. Und fo gehen fie flug daran, der Gegenwart, . die alle Refte der aus großem Solibaritätgefühl geborenen Bolkstrachten vernichtet, neue Frauengewandung zur dekretiren. Ban de Velde, als Ethiker fo konfequent, wie ers al8 Künftler ift, fordert Uniformität aller Kleidung bei feftlichen Gelegenheiten und auf der Strafe. Der Gedanke ift groß und e3 fcheint ficher, daß aus einer zukünftigen Kultur einft wieder eine allge- meine Tracht hervorgehen wird. Dann aber wird fie logiſch von fozialen Nothwendigkeiten, religiöfen Gewohnheiten oder fonftwie bebingten Lebens⸗ formen beitimmt werden. Der Belgier irrt, wo er den Gedanken verläßt und es unternimmt, als bilbender Künftler eine neue Tracht zu erfinden; damit fchaffte er ein Kleid, bevor der Menſch vorhanden ift, der es tragen fönnte. Er fagte einft, daß er oft Stunden lang vergebens verfuche, ein Kleid zu „Lonftruiren“, während andere Aufgaben feiner Kunſt ihn keine befonderen Schwierigkeiten bereiteten. Der Grund ift, daß diefe Arbeit ganz unkünftlerifch ift und den Grundbebingungen des artiftiichen Schaffens nicht entipricht. Je mehr Einer als Künftler empfindet und Ban de Belde empfindet außerordentlich intenfiv —, defto mehr muß ihm folche Aufgabe erfchwert werden. Ein Kleid kann nicht Eonftruirt werben, die Betonung der Näthe, wie diefer Künftler fie fordert, fanın nie das Prinzip des Gewandes anfhaulich machen, weil das weiche, unplaftifche Material Kunftformen nicht zuläßt. Ban de Velde ift eine fo bedeutende Perfönlichfeit, daß er felbft der Unmöglichkeit eine intereffante Aeſthetik abringt.. Die von ihm ent- worfenen Kleider, getragen von einer ganz beftimmten fchönen, ſelbſtbewußten Frau, im Milien eines feiner charakteriftifchen Interieurs, geben jtarfe Ein=: drüde. Durch nichts ift aber bewiefen, daß hier eine Form zukünftiger Kultur: tracht gefunden iſt. Die Bedeutung der architektoniſchen Konſtruktion⸗ und Dekorationformen Dan de Beldes für die angewandte Kunſt und fogar für die Architeltur der Zukunft ift ganz offenbar; an diefen Refultaten eines genialen Bildnertriebes kann die Zeit nicht vorbei, ohne jich entjcheidend damit auseinanderzufegen, und wenn der prachtvolle Anfang nicht zu einer „Res naiffance* führt, fo liegt es allein an der Unreife der fozialen Zuftände und an dem Mangel einer konfequent zur Baukunft fortjchreitenden Nachfolge des Belgierd. In das Prophetenthum, das jo ſchwer zu vertheidigen ift, wird der Künſtler hineingetrieben, weil die Zeit jo elend ift, daß fie ihn zwingt, auf Grund neuer Ornamente und Möbel ewige Kunftprinzipien ins Ge—

Der Künftler als Damenfchneiber. 39

dachtniß zurückzurufen. Die Tracht aber hat mit Kunſt eben nichts zu thun. In ben Toiletten Ban be Beldes ift die deforative Eigenwirkung des Materials fehr klug berechnet und ſchöne Drnamente bededen mit feiner Motivation die abſchließenden Theile. Das ift jeboch Alles. Nimmt man das koſtbare Material und die Drnamentapplilation hinweg, fo bleibt nur ein primitives Etwas übrig. Eine organifch gewordene Bollstracht fann aber in Sammet oder Zwillich hergeftellt werden: fie behält immer das Charakteriftifche. Nur in einigen Straßenfleidern giebt Ban de Velde mehr, weil er ſich auf Wirklich- keiten ſtützt, fi auf die Bekleidungart bezieht, die aus fcharf umriffenen Zwecken hervorgeht, auf das Gewand der Automobilfahrer, Radler u. |. w. Hier allein ift ein logiſches Schaffen im Rahmen Iebendiger Nothwendigfeit; boch auch hier ift e8 nicht Aufgabe eines fo vortrefflichen Künftlers, Schneider» arbeit zu leiften. Das Wort würde genügen. Auch ift es bemerfenswerth, daß ſolche präzifirte Zweckklleidung von den Schneibern ganz ähnlich ent- worfen wird wie von biefem Künftler; das rein praftifche Bedürfniß kommt von felbft zu Nefultaten und erzieht fih ein Schneidergeſchlecht. Ban de Belde und Die feiner Art find für ſolche Arbeit zu fchade. Ä

Die theoretifche Forderumg der Uniformität ift überzeugend, trogdem gerade fie am Scärfftep belämpft wird. Wäre die Yrauentracht wirklich eine Schöpfung der Kunft, fo müßte das individuellfte Gewand aud) das am Meiften künftlerifche jein; das Erftrebensmwerthe wäre dann: die Ueberein- ftimmung von Perfönlichkeit und Kleid. Der Kunftgenuß liegt aber nicht in der einzelnen malerijchen Erſcheinung, fondern in der poetifchen Anfchauung, wie fich viele Perfönlichkeiten einer fozialen Idee einordnen, eine Kultur: fonthefe darftellend. Ein marfchirende® Regiment, ein Kirchgang von Bäuerinnen in Nationaltract, jelbft eine VBerfammlung-beiraster Müuser; Das giebt Bilder und Aberzeugt durch bie Wucht einer. Jolidasın- Spas taneität, während eine bunt, alfo „individuell“ gefleidete Menge häßlich wirkt. Hier zeigt fich deutlich, daß der Urfprung jedes Stils im Gemeinfcaftgei liegt. Bollstrachten findet man im richtunglofen Leben der Gegenwart nur nod, wo religiöfe Gruppen fih duch Iſolirung vor der alle Eigenart verwifchenden Civilifation retten, wo ein Sozietätgefühl Kaftenfonderung be- wirft und ein Stand, wie etwa der militärifche, im fich gefchlofjen ein Sonder: ‘eben führen kann. Ohne ſoziale Idee, die erſt zu wirken vermag, wenn die zerfplitterten Theile von einer allgemeinen Lebensidee zufammengefügt werden, entfteht nie eine uniforme Tradt. Es kommt aljo immer wieder nur darauf an, die Grundlagen umfaffender Weltbegriffe vorzubereiten, nicht, indem man Refultate weit vorgreifender Künſtler verbreitet, fondern durch die Erziehung des Geiftes, damit das Volf, fo weit es überhaupt möglich ift, fähig werde, zu fordern und zu wählen.

40 | Die Zukunft.

Aber die Inbivibualiftinnen ber Kleidung follen nicht glauben, "gegen Künftler von der Bebeutung Ban de Beldes Recht zu haben. Unrecht haben diefe Künftler nur den Gefegen der Entwidelung und auch ihrer eigenen Be» gabung, nicht aber der veränderungfüchtigen Diode gegenüber. Was die Fran als Freiheit preift, ift einfach Charafterlofigkeit, ein grobes, felten äfthett« ſches Raffinement, das mit Cocotteninftinkten nach wechfelnden Reizen haſcht. Nur die Karilaturenzeichner, die Chififten und Deladenten der Kunft ent-_ nehmen der geltenden Belleidungart Anregungen, niemals die großen, ernften Künftler. Die äfthetifchen Werthe einer modernen Toilette richten ſich außer⸗ dem ganz nach dem Geldbeutel; da der Dienfibote prinzipiell eben fo gekleidet ift wie bie Herrfchaft, fo liegt die Unterfcheidung nur im befieren Material, in ber forgfameren Anfertigung, in der Koftbarkeit deforativer Einzelreize. AU dieſe gligernde und raufchende Toilettenäfthetif der Dame fteht dann aber im Dienfte des gefchlechtlichen Anreize; und fo fommt es, daß die blinden Be- wunderer des Frauenkleides, wie es bunt die Straße belebt, unter den jungen Leuten zu fuchen jind, die auf der Höhe des Gefchlechtögefühles ftehen.

Ein Beweis, wie fehr der Künftler das Problem von ber ethifchen Seite nimmt, liegt darin, ‘daß er fi zum Agenten der bygienifchen Be— firebungen der Neformvereine macht und fih für die Gefundheit feiner Mit- menschen echauffirtt. Die Tendenz ift fehr hübfch; leider fühlt er fich aber als Künftler, wenn er der Volksgeſundheit dienen will, und Das verwirrt und lähmt fein produftives Vermögen. Es iſt gut, fi Har zu machen, daß wir auf diefem Gebiet von den Nugkünftlern nichts zu erwarten haben als eine fchöne Theorie und eine neue Mode. Eine neue Mode! Immerhin: fhöner als die bisher geltende ift fie gewiß, dezenter und auch gefunber. Nur follen die begeifterten Propheten und nicht vorreden, fie würden eine Kulturtracht fchaffen, fondern fi über diefe Nebenbefchäftigung klar werben und einfehen, dag fie im beiten Fall nichts fein können als fozialethifche Damenfchneider, deren Wirken Epifode bleiben muß.

Friedenau. Karl Scheffler.

tv

Der forrheimer Tennisklub.

& Korxheim, der befannten Perle des uralifch-baltifchen Yandrüdeng, mit einem Gymnafium, einem Amtsgericht, zwei Brüden und drei Kirchthürmen, verbreitet fich tief im Winter, während einer Schlittenpartie, unter den Ein- wohnern plöglid die Idee, daß im Frühjahr Tennis gefpielt werden müſſe. Die Bürgermeifterin hat legten Sommer irgendwo im Darz „zwei Engländer“ fpielen jehen, zwei wirkliche Engländer, denn fie zählten immer „Aftihn szärrti“

Der torrheimer Termisflurb. 41

und fagten „ei bäck juhr part'n“; und es fet etwas zu Reizendes. Die an- wefenden Mütter, die heirathfähige Töchter haben, nicken einander verſtändnißvoll zu. Die altmodifchen Väter zwar, bie den Nuten ſolcher Neuerungen nicht ein- fehen und für ihre Kafle fürchten, murren anfangs. Doc aller Widerftand ift erfolglos: binnen vier Wochen bat fih ſchon ein Damenkomitee gebildet und den gutmüthigen Referendarius Kunibert mit der Ausführung betraut. Der junge Dann bat Feine Ahnung, was er eigentlich foll, ijt aber auch von bem Plan wie bypnotifirt, daß ein richtiger, ein ordentlicher Platz eingerichtet werden müſſe, „mit allen Chicanen“. |

Da wird der Bimmermeifter des Städtchens zum Helfer in der Noth. Auch er hat nicht etwa jemals ſchon Aehnliches vorgehabt. Aber er kennt Feine Schwierigkeiten, ſchmunzelt jo Vertrauen erwedend, hat fo runde, bejchwichtigende. Handbewegungen für ben Koftenpuntt, daß Kunibert glüdjälig berichtet: übermorgen Thon werde die Sache in Angriffgenoinmen. Auf dem vom Eifenbahngotel um dreißig Mark für das Jahr abgemtetheten Kartoffelader erfheinen Männer mit Meßleinen und Spaten. Große Wagen fahren vor, bie aus einer entfernten Biegelei barte gebrannte Abfälle heranfchaffen. Dann ſitzt Wochen lang ein Dutzend Arbeiter und hackt „Klamotten“ zurecht, mit benen der ausgehobene Grund in zwei Schichten belegt werden fol, um das Regenwaſſer durchzulaffen. Aber während hier Alles im beften Gange fcheint, raſt ſchon der Damenfrieg. Die beflere Hälfte des Gymnafialdireftors, hager und etwas jähzornig, wenn fie auch nicht (wie ſichs gehörte) zur lady-patroness des ganzen Unternehmens erforen wurde, hätte mindeftens erwarten dürfen, im Komitee das entſcheidende Wort zu ſprechen, fieht ſich zur ihrer peinlichen Enttäufchung aber von den intimften Berathungen ausgefchloffen und wirft nach einer letdenfchaftlichen Szene dem Amtsgericht den Fehdehandſchuh Hin. „Hie Welf, hie Waibling!“ tönt es durch die Gallen, und ftatt eines Tennisplaßes werden zwei gebaut, didjt neben einander. Was das Amtsgericht kann, kann das Gymnafium noch allemal.

Der Zimmermeifter lächelt voll arger Lift. Nur Kunibert hat ſchwere Tage. Alles joll er wifjen und feinem Menſchen vermag er zu genügen. Wo man feiner babhaft wird, muß er fid) vorwerfen laſſen: „it es dem noch nit fertig? .. Kann benn nod nicht angefangen werden?” Nach der vorhandenen Ungebduld darf man auf einen phänomenalen Eifer ſchließen. Korxheim wird in den Tennis:Annalen einft mit goldenen Lettern verzeichnet ftehen. Unermüdlich jagt der Abjutant des Damenfomitees auf feinem Stahleoß hinter dem Ein- fpänner des Bauherrn her, um irgend eine gute Auskunft von ihm heimbringen zu können. Nod in letzter Stunde thürmt ſich ein ungeahntes Hinderniß auf, da Niemand recht weiß, wie viel Lehm eigentlich auf das Ganze gehört. Aber der Helfer löſt auch diefe Schwierigkeit in feiner ftillen Art. Nachdem die Klamotten, nicht allzu forgfältig, in den Boden gerammt wurden, ſtreut feine milde Hand, ohne allen Lehm, eine leichte Sandſchicht darüber; und fobald fie glatt gewalzt worden ift, bietet fih dem entzüdten Auge der Korxheimer der Anblick zweier tadellofen Tennispläße, wirfli und wahrhaftig „mit allen Chicanen.“

Das Gymnafium hat feine Kämpen früher zur Stelle. Sofort wird be- gonnen, obwohl der Sand noch nicht einmal getrodnet ift. Aber wie? Kaum ift eine Stunde lang geſpielt worden, jo gleicht der Platz ja einem zweiten

42 Ä Die Zukunft.

Beſſarabien. Ueberall guden, gleich Spargelföpfen, die Fantigen Steine aus dem Boden hervor, die Spieler bejehen erjchredt bie zerfeßten Sohlen ihrer frifh eingelauften Tennis Schuhe und zwei Oberlehrer verlafjen hinkend, mit wunden Füßen, ben Kampfplatz. Ein eifiger Schauer fährt in das Komitee der Damen. Nachdem fie jo vielen Bemühungen ihres Adjutanten mit folder bingebenden Ausdauer zugeſchaut haben, noch immer nichts? Kein Unfangen möglih? Während die Schläger ſchon in der Brefle liegen und neue Strob- hüte mit den Klubfarben garnirt find? Das ift Verrath. Wo ftedt diefer Bimmermeifter? Der aber begnügt fich, ohne viele Worte zu madjen, eine Ipezifizirte Rechnung über je neunhundert Mark einzureichen, nachdem auf hoͤch⸗ ſtens zwei- bis dreihundert kalkulirt worden war.

Panil. Das Gymnafium ift ruinirt. Aber nun zeigt ſich ber große Sinn der echten Korxheimerinnen. „Jetzt gerade!“ geht es durch ihre Reihen. Eine Seneralverfammlung wird einberufen. Was die Männer anlangt, berricht völlige Uebereinftimmung. Da ijt Keiner, der nicht zu jedem Opfer bereit wäre, das ein Anderer bringt. Endlich entfchließt fi der Amtsrichter, mit einem Blick auf feine flotte, junge Frau, die Angelegenheit hypothekariſch zu ordnen. Nachdem in aller Eile noch anderthalb Fuhren Lehm auf den Platz gefahren und ausgebreitet find, watet nach einem Regentage eine Verſuchspartie in ben weichen Mafjen umher. Dann wird auf Anrathen eines klugen Gerichtsboten das Ganze heruntergefraßt und die Unterſchicht nochmals gerammt. Die ener- gifche Frau Amtsrichter, in einen ſchwarzen Burnus gehüllt, fteht von ſechs Uhr morgens bei den Arbeitern, regunglos den Betrieb überwachend wie Napoleon den Bau ber Dresdener Brüde, und wird nur nachmittags von Kunibert ab» gelöit. Endlich, nachdem die Kleinmüthigen fchon ganz verzweifelt waren, tft der Platz zum dritten Mal in Ordnung. Es wird gejpielt.

Fortan erquidt fi) eine Schaar von Neugierigen Tag für Tag au dem in unferem Vaterlande gebräuchlichen Hergang. Eine junge Dame verjudt von der Grundlinie aus, den Ball übers Neb zu geben. Sie verſucht den Schlag von oben, fie verjucht ihn von unten, aber ob nun der Arm fo jaftlos iſt oder nur das prall geichnürte Korfet die Bewegung hemmt: der dumme Ball will nicht fliegen! Erft nachdem man der Verſtimmten erlaubt hat, allen Regeln zumider tief ins Spielfeld hinein vorzutreten, geht der Ball übers Neg. Drüben ein langgezogener, melodifher Aufichrei: eine flatternde Wolfe von Muffelin jtürzt unter allgemeiner Xheilnahme dem Creigniß entgegen; der Ball, auf: Ihlagend, jucht Unterfchlupf an einem ſchönen Herzen, befien Inhaberin weit davon einen wilden Dieb in die Luft fuchtelt. „Nein,... aber!..." Von fröb« lihem Gelächter begleitet, fehrt fie auf ihren Platz zurüd, und das felbe Schaufpiel wiederholt fi) von der anderen Seite. Trotzdem ift die Luft groß. Ein dider Fabrikant fällt lang hin, was eine eben entjtandene Spannung zwiſchen den DBarteien glüdlich löft. Um nächſten Tage ruft Lieschen zu ihrer Freundin über die Straße: „Du, geftern hab’ id) Tennis gelernt... Es iſt ganz leidt... Nur das Zählen ift furchtbar fchwer... Meine Schweiter fpielt ausgezeichnet.” Der Bezirtsoffizier aber, der in Wiesbaden einft bejjere Tage und bejjere Partier aejehen und ſich weisli vom Beitritt zurüdgehalten Hat, brummmt eines Nach— mittags etwas fpöttifch in feinen Bart: „O korx, jo lang Du forren kannſt!“

Teer forrheimer Zennisflub. 43

Denn zunädit find nicht einmal die Maße richtig angelegt 'worben: der Plot bat feinen Auslauf. Anderthalb Meter Hinter der Grundlinie erhebt fich bereitö ein Geländer, jo daß auf Bälle, die nad dem Ende bed Plabes Hin fallen und fid) von dort erft heben wollen, einfach verzichtet werden muß. Das Geländer ſelbſt wieder ift viel zu niedrig; die Bälle fpringen fortwährend bin- aus ins Freie und die Ballbuben wandern am Horizont in den Sartoffelfeldern under, während ein unabläffiges Gefchrei: „Bälle! . . Wo find die ungen? ... Wollt Ihr wohl laufen?” fie verfolgt. Diefen Mangel auszugleichen, wird auf didem Pflod an jedem Plagende ein Sammelbecken errichtet, der Auslauf dadurch noch verſchlechtert, zugleich für fchnellere Spieler eine direkte Lebens» gefahr geſchaffen. Der Amtsrichter allein kann zählen, thut es treulid und ehr- lih und die Anderen gewöhnen ſich daran, fein monotones „Null-fünfzehn“ ober „Dreißig Beide" zu hören, um fich deſto ungeftörter einer fließenden Unters

haltung zu widmen, bis plöglih die Gegenpartei „Vierzig“ hat, was unter

feinen Umſtänden geduldet wird. „Es muß falſch gezählt worden fein! ... Den Ball damals, den nahm ih do . . Und dann der Doppelfebler!" ... Ein Minuten langes Gezänt erhebt fidh. |

So wird ein paar Moden lang weiter „gekorxt“, bis aus den allerver- ſchiedenſten Urſachen die Hite fich legt, der Eifer erliſcht. Zwei Schweitern, bie den Statuten zum Trog unter übermäßig langen NRöden doch mit den ver- botenen hohen Haden durchfchlüpfen zu können glaubten, werben an den tiefen Munden, die fie dem Boden reißen, etfannt, müflen Strafe zahlen und bleiben beleidigt zurüd. Die Bürgermeifterin kann das Laufen nicht vertragen, „ver- fnart” fi das Fußgelenk und wird in einen Gipsverband gelegt. Kunibert geräth, al3 er zum Schlage weit ausholt, mit feinem Radet zwiſchen den Pfahl des Sammelbedend und ben dicht dahinterftehenden des Geländers, verrenkt fich die Sehnen der Mittelhand und ift auf Monate hinaus fampfunfähig. Der Bürgermeifter ftolpert auf die (zum Sprengen) in einer Ede aufgeftellte eiferne Pumpe und zerichlägt fih die Stirn. Der Amtsrichter wird müde, jich vor: werfen zu laſſen, daß er bein Zählen „Streit anfange“, und vertieft fi in feine Alten. So bleiben zuleßt nur ein enthufiasmirter Poſtgehilfe und ein junges Fräulein übrig, das brennend gern ſpielen möchte, aber vom geftrengen Vater nicht fortgelafjen wird, weil es ſich nicht für fie fchidle, mit einem Deren allein auf dem Platz zu jein.

Eines Tages liegt das Spielfeld dd und leer. Gras beginnt darauf zu wachſen. Das Netz verrottet, die Ballbuben feiern, und auch nachdem die ver- ihiedenen Gelenfe, Köpfe und Yeindichaften ausgeheilt find, will ſich das einit fo hochgehende Intereſſe nicht wiederfinden. Zwei Fabrilantenfrauen haben zu radeln begonnen und finden es „himmliſch.“ Spät im Jahr erſt geben ein paar zu den Ferien heimgelommene Sefundaner das Anwefen jeiner eigentlichen Be- ftimmung zurück und die Mütter heirathfähiger Töchter beginnen, leije wieder zu hoffen... . Korrheim hat vielleicht doch noch eine Zukunft! . .

Yahr. Dr. Robert Heſſen.

C

\

44 Die Zukunft.

Jellinek.

3* meiner früßeften Kindheit Habe ich ein tiefes Mißtrauen gegen Mufter- knaben. Alle, die ich bisher kannte, find entweder nichts geworden oder in den meiften Fällen Häglich entgleift. Ein folcher Muſterknabe war auch Jellinek, der Beamte ber wiener Lünderbank, den die Polizei zehn Tage lang an

allen Eden und Enden der Welt fuchte. Er mag jeinen Nebenmenſchen mandje Pein

bereitet haben. Den Ehemännern, die unpünktlich zu Tiſch famen, rief die theure Gattin oft wohl jhmollend entgegen: Nimm Dir an ben ellinef ein Beifpiel! Der ift immer pünktlih. Der Bantbeamte, der zum Direktor ind Allerbeiligite fhlih und in der feinem mageren Lohn entjprechenden devoten Haltung um Urlaub Bat, mußte hören: Warum nimmt denn der Jellinek feinen Urlaub, ber doch viel mehr arbeitet als Sie? Die bejorgte Muttter, der ein Sohn die Liebe zu einem mitgiftlofen, aber tugendhaften Mägdelein geftand, zog den braven Jellinek als Beijpiel dafür heran, daß Tugend plus Mitgift dem häuslichen Herde die fiherfte Grundlage ſchafft. Und nun iſt der Mujterfnabe als Betrüger entlarvt und als Selbitmörber in der Defraudantenhölle gelandet.

Die wiener Preffe, für die der Fall ein gefundenes Frefien war, hat den Betrüger als ein pjychologijches Räthſel behandelt. Ich finde. nichts Räthjelhaftes an Sellinel. Je mehr man über ihn lieft, um jo leichter begreift man, wie gut bier forrefte Tugend und fittliche Berlotterung zufammenpaßten. Den Vorfchlag, bei einem reihen Dann der wiener City einzubrechen, hätte Jellinek gewiß entrüftet abgelehnt. Andere lüfterne Spekulanten, die bis zum Verbrechen vorjchreiten, bringen zunächſt das von Berwandten ihnen anvertraute Geld durch; Tyellinel jcheint nicht einmal das Bermögen feiner Frau angetajtet zu haben. Troßdem er einem Anderen eine bewegliche Sade, in der Abficht, fie ſich rechtäwidrig anzueignen, fortgenommen bat, kann man ihn nicht einen gemeinen Dieb nennen. Er gehört zu den Verbrechertypen, von denen der Volksmund viel Rühmens« werthes zu melden weiß. Rinaldo Rinaldini, der Schinderhannes und Karlo Moor beraubten die Reichen und fchonten oder jhüßten gar die Armen. Natürlich ftelgen nicht alle Exemplare dieſes Typus auf fo hohem Kothurn einher. Jeder von uns kennt Leute, die es nidht für Sünde halten, den Staat zu betrügen, weil er ihnen als ein unermeßlich reiches, geiwaltiges Fabelweſen vorſchwebt. Den in der Staatsbürgerpflicht Erzogenen heinmt allenfall3 noch die Vorſtellung, daß auch der Arıne mit feiner Steuer für das Staatsdefizit aufzufommen hat. Diefer Gruppe halb unbewußter Betrüger ähnelt Tellinef; und feine Hemmung hielt ihn zurüd, da ers nicht mit dem Staat, fondern mit einer Aktiengejellihaft zu thun hatte. Alljährlich fließt da die Dividende in die Tajche von Leuten, die nicht Jäen und dennoch ernten; da8 Gros der Beamten, das jahrein, jahraus die monotone Tretmühlenarbeit leiftet, hat chrfürdtig zu buchen, was jedem der Herren Direktoren aus allen möglichen Nebengeſchäften in den fetten Schoß ge- fallen iſt. Zu diefer Sklavenſchaar gehörte Jellinek. Seine Frau hatte Geld in

die Ehe gebracht, mit dem er, oft mit Erfolg, an der Börfe ſpekulirt Haben ſoll.

Da brad die Gründerzeit an. Ringsum fah er Leute fchnell reich werden, die auch nicht mit eigenem Gelbe „arbeiteten. Er wußte, daß viele Direktoren, wenn ihr Geld nicht langte, fih einfach einen Debetialdo bei der Bank kon—

Jellinet. 45

ſtruirten. Das hätte er als Direktor auch gekonnt; doch er war nur ein unter⸗ geordneter Beamter. Sollte er deshalb ſein Spekulantentalent roſten laſſen und dem Glück nicht die Hand bieten, das ihm von allen Seiten winkte? Er nahm ſein Betriebskapital eben von der Aktiengeſellſchaft. Natürlich nur als Dar⸗ lehen. Der Optimiſt war ſicher, daß ſein Geſchäft gut gehen müſſe; und dann würde er das Entliehene gewiſſenhaft zurüdzahlen.

Edmund Jellinek war ein höchſt ordentlicher, ein geradezu pedantiſcher Geſchäftsmann Er ſuchte ſicheren Gewinn, nicht etwa ſolchen, den der Tag brachte, der nächſte Tag wieder nahm. Andere hätten in ſeiner Lage nobel gelebt, ſich Weiber und Pferde gehalten. Er lebte mit Spießbürgern ſpießbürgerlich, war ein zärtlicher Gatte und liebte die Häuslichkeit. Aber er verrechnete ſich und brauchte immer neues Geld. Zurück konnte er nun nicht mehr: wenn ſeine Unternehmungen zuſammenbrachen, mußte ſein Verbrechen ja enthüllt werden. Als Kaufmann rechnete er falſch, als Pſychologe richtig. Er kannte die Menſchen und wußte, daß ſeine muſterhafte Führung ihn vor jedem Verdacht ſchützte. Ein Bankbeamter, der tief in die Nacht hinein arbeitet und nie, in langen Jahren nie Urlaub erbittet: Das mußte den hohen Herren der Länderbank imponiren. Immer die ſelbe Geſchichte; auch von Sanden und Genoſſen wurde und ja er⸗ zählt, fie Hätten bie Nächte durch gearbeitet, fi) nie Ruhe gegönnt und fogar in die Privatwohnung Bücher und Alten mitgenommen. Eifrige Advolaten haben in Moabit ſolche Kaufmannstugend in den höchften Tönen gerühmt. Heute aber, wie damals, darf man nüchtern auf den Lobgeſang antworten: Der ehrlide Dann braucht und gönnt fi Erholungzeit; der Betrüger, der ſtets vor Entdedung zittert, muß morgens der Erfte, abends der Lebte im Bureau fein.

Als richtig hat fich auch Jellineks Rechnung auf die öſterreichiſche Schlam- perei erwielen. Als der Betrug entdedt war, wurden unjere Bankdireftoren nervös; fie ließen nah Wien fchreiben und genaue Darftellungen des Sadjver- haltes erbitten, um ſich vor ähnlichen Verbrechen fihern zu können. Sie dürfen ruhig Ichlafen. Betrügereien find nie und nirgends mit abjoluter Sicherheit zu bindern ; der Fall Jellinek aber war nur in Oefterreih möglid. Auch in Deutfch- land haben wir id) erinnere nur an Schwieger Millionendiebftähle er- lebt. Man bat darob die Köpfe geichüttelt, die Kontrolmaßregeln verichärft, im ftilen Sämmerlein aber nachher feufzend zugegeben, daß folde Unfälle nun einmal nicht zu vermeiden find. Bei der Länderbank lag die Sache anders. Ein Kaffenafliftent, alfo ein untergeordnneter Beamter, hat jieben Sabre lang ge- ftohlen. Weun der Kaflenchef ihm befahl, einen ohne Datum ausgeftellten Ched am nächſten Tag beim Wiener Giroverein und der Defterreichifch: Ungarifchen Bank einzulöfen, dann löfte er ihn ſchon einen Tag vorher ein; erließ fi immer einen Tag vorher die für den nächſten Morgen nöthigen ChedS geben. Das wurde nicht be- merkt. Der Chedverfehr mit den beiden Hauptbanten kann alfo während der Ichten Jahre nicht kontrolirt worden jein. Noch ift ferner nicht aufgeklärt, ob Jellinek nicht Blankochecks aufhöhere Beträge ausgeftellt hat, als für die Bank verbucht worden find. Ich möchte nicht in den Fehler des Mannes verfallen, ber alle Deutichen nad) dem hamburger Stellner beurtbeilte, der ftotterte und rothe Haare hatte. Nach allen Er- fahrungen, die man mit Defterreich gemacht hat, iſts aber wohl faum Uebertreibung, wenn man behauptet, nur an der Schönen blauen Donau könne Dergleichen pafliren.

46 Die Zukunft.

Die Wiener ſind nette Leute; fie tanzen gut, ſind luſtig und feſch, haben die beiten Mehlſpeiſen und die flinkſten, aufmerkſamften Kaffeehauskellner, aber der Geſchäftsmann, der mit wiener Kunden zu arbeiten hat, mag ſich in Acht nehmen. Da gehts nicht immer ſauber zu. Bezeichnend für dieſen Zug des wiener Lebens ich brauche nicht zu ſagen, daß ihm ſehr ehrenwerthe Elemente nicht fehlen iſt ja auch, daß in den Zeitungen, die ganze Seiten mit dem Fall Jellinek füllten, nirgends die Regreßpflicht der Länderbankdirektoren betont wurde. Nur außerhalb dieſer höchſten Region werden die Schuldigen geſucht. Das muß den Leſern doch gefallen. Selbſt die arme Frau Jellinek wurde ver- dächtigt und fogar vom Unterfudungrichter zunächſt offenbar mißtrauifch auf- genommen. Sie fonnte in dem Manne nur ben treuen Eheherrn jehen, der in geordneten Verhältniſſen lebte, ungemein fleißig war und mit ihrem Ber- mögen glüdlich jpefulirte; aber man möchte fie zur Mitfchuldigen machen. Herr Pollak, Jellineks Sozius, könnte der VBerführer, mindeftens eben jo gut aber auch ber ahnunglos Betrogene gemweien fein. Jellinek gab fi) ihm als BVer- teauensmann eines Finanzkonſortiums aus und ließ burchbliden, daß zu diejem Konſortium auch Bankdireftoren gehörten, die fich mit ihrem Namen nicht her- vorwagen durften. Warum follte Pollak dieſer Erzählung nicht glauben? Daß es ſchon Direktoren gab, bie ſolche Geſchäfte machen, ift fiher; und man braucht fein Dummkopf zu fein, um für möglich zu Halten, daß fie fich einem alten Beamten von erprobter Treue anvertrauen. Das Flingt immerhin glaubwür- diger als die Wahrheit: daß ein Kaflenaffiftent fünf Millionen geftohlen hat und daß erit nad fieben Jahren das PVerbreihen entdedt wurde.

Der Hauptzorn tobt in Wien gegen die Bankbeamten, bie für Jellinek Börlenaufträge ausführten, und gegen die Bankhäufer, die ſolche Aufträge nicht ablehnten. Nichts Neues unter der Sonne. Immer wüthen die gejchädigten

Banken zunächſt gegen die Kommiſſionhäuſer, die für die Angeftellten thätig waren. -

Haben benn aber die allweilen Direktoren noch nie gehört, daß Bantbeamte, die nur ein paar taufend Mark oder Kronen Gehalt haben, ſich luxuriöſe Villen faufen? Oft genug haben fies gehört und jelbft gejehen, aber nie nad ber Herkunft des Geldes gefragt. Auch Jellineks reguläres Jahreseinkommen be- trug nur 5000 Kronen; doch man wußte, daß er eine reiche Frau hatte. Da war ihm zuzutrauen, daß er mit makellos erworbenem Gelde jpefulice und Fabriken gründe. Dem als wohlhabend befannten Danne, ber von den Direl- toren al3 Diufterbeamter geſchätzt wurde, jollten die Stollegen mißtrauen? Nur in der Direktion darf man die Schuldigen ſuchen. Bis jeßt ift feitgeftellt, daß Sellinet 1,5 Millionen Kronen für die Eleftromobilwerfe, 1 Million für die Zorfinduftrie, 50000 Kronen für die Poſtſparkaſſe, 300 000 Kronen als Depots in Wechfeljtuben untergebracht hatte. Davon wußten die Direktoren nichts, ob- gleich e8 in ihrer nächiten Nähe vor fi ging und nirgends fo viel getraticht und geflatjcht wird wie gerade in Wien. Ihre Ahnunglofigfeit wird freilich entichuldbarer, wenn man bebenft, daß Jellinek bei der Länderbank ein Depot von

50000 Kronen und bei der Vorſchußkaſſe der Länderbanfbeamten ein Guthaben

von 250000 Kronen hatte. Unverzeihlich bleibt unter allen Umftänden aber das Fehlen jeglicher Stontrole. Wirthſchaft, Horatio, Wirthichaft! Das heißt, ins Wienerijch:- Yänderbänkliche überjegt: Schlamperei, Herr Balmer, Schlamperei!

5 Plutus.

Notizbuch. 47 Notizbuch.

SD: Reichskanzler dat an eine Feſtverſammlung preußiicher Oftmärfer tele⸗ graphirt: „Ich bin überzeugt, daß die erhebenden Kaiſertage in Poſen für die Deutſchen der Oſtmark ein Sporn fein werden, fi unter Ueberwindung aller trennenden Momente einmüthig um bie nationale Fahne zu fchaaren. Dann wird auch einer ftetigen und zielbewußten Oftmarkenpolitit der Rüdhalt nicht fehlen, deſſen fie für den Schuß der deutſchen Sache im Often bedarf.” Tage, die ein Sporn fein ſollen, Menfchen, die der Sporn unter die nationale Sahne treibt: le style est !’homme möme. Das mag hingehen; der Schuß der deutſchen Sache im Often würde freilich nicht gerade erfchwert, wenn die berliner Herren den Genius der deutſchen Sprache empfinden und achten lernten. Doc nicht an die Form, fondern an ben Anhalt der Depefche wollen wir uns halten. Graf Bülow findet, bie pofener Kaijer- tage ſeien „erhebend“ geweien. Große Anſprüche macht er nicht; wenn auf gepußten Straßen Hurra gejchrien wird, ift er zufrieden. Vielleicht fand er das Benehmen der ruffiiden Offiziere erbebenb, dte ftumm und fteif allen Trinkſprüchen zuhörten und auf deutjche ragen polniſche Antworten gaben, vielleicht auch die Thatſache, daß der löhlihe Aufwand an Kommunallicht bie dunklen Bolenbäufer für die kurze Dauer der Illuminationen dem flüchtig hinblidenden Auge verbarg. Neunzig Jahre nad der vierten Theilung Polens zieht der König von Preußen in Poſen ein wie in eine eben eroberte Stadt der landfremde Sieger, defien eben nur in einem Schutzſpalier gefichert ſcheint und bem die Volksmehrheit den Gruß verfagt. Solches Schauſpiel nennt der Stanzler des Neiches erhebend. Andere werden in der Thatjache, dab im Zauf eines Jahrhunderts alle Berfuche, die Polen zu affimiliren, erfolglos geblieben find, nicht gerade einen Beweis für die Wirkenskraft preußijcher Verwaltung ſehen. Sie werden aud nicht glauben, daß die Deutichen „ſich unter Ueberwindung aller trennenden Momente einmütbhig um die nationale Fahne ſchaaren“ oder, wie der Kaiſer vorher gewünſcht hatte, „das Opfer ihrer ausgeprägten Individualität bringen“ werden. An Individualität haben wir feinen Ueberfluß; und Intereſſenſpaltungen, die bis an die Wurzeln des wirthichaftlichen Dafeins Hinabreichen, find durch ſchöne Mahnungen nicht aus der Welt zu Schaffen. Die Zuftände find heute wieber eben fo ſchlimm wie vor zweiundfiebenzig Jahren, als in Poſen für ein Zahnſtocheretui, eine Papierfchere aus ben Nachlaß des Erzbiſchofs Wolidi achtzehn Thaler, für zwei große vergolbete Vaſen mit den Portraits des Königs und des Kronprinzen nur zwei polnische Srofchen geboten wurden. Damals jchrieb Wrangel, ber feit 1821 als Kavalleriedrigadier an der Warthe ſaß: „Seit neun Jahren in dieſer Provinz, Habe ich Gelegenheit gehabt, deren Bewohner hinlänglich kennen zu lernen, und muß mit betrübtem Herzen befennen, daß die hiefigen Bolen, ftatt in der Sermanifation vor- geſchritten zu fein (die einzige Urt, um die kommende Generation zu treuen und ruhigen Unterthanen umzujchaffen), fich vielmehr ihr Haß gegen die Regirung und die deutſche Sprache unglaublich gefteigert hat.” Die milde Herrichaft des Fürſten Anton Radziwill, bes Statthalters ausjagellonifchem Blut, und des Oberpräfidenten Zerboni di Spojetti hatte der beutichen Sade feinen Nuten gebracht. Es war bie Beit der europätjchen Bolenfchwärmerei. In Parts, in London tobten die Parla- mentarter, der Bürgerfönig nahm die jarmatifchen Flüchtlinge gaftlich auf und nicht lange danach wurde auch in Deutfchland, befonders im Süden, für Polens Märtyrer

48 Die Zuhmft.

die Trommel gerührt. Wie jet Botha, Dewet, Delarey, fo zogen ſeit dem Herb 1831 die drei polnischen Generale Ramorino, Langermann und Sznayde durch die deut- ſchen Lande. Ueberall wurbe für fie und ihre Landsleute gefammelt, wurden fie von Dffizieren, Bürgern, Gelehrten Rotted und Welder in Freiburg feſtlich be- wirthet und von Begeifterung umjauchzt. Inzwiſchen verjuchte mans in Vofen mit dem ftrengeren Regime Slottwell-Srolmann, deffen Verdienſte nicht gering zu ſchätzen find, dem aber eine dauernd nützliche Wirkung auch verfagt blieb. Warum? Weil man in Berlin und in Poſen glaubte, der preußifchen Verwaltung fei die Aufgabe geftellt, die Bolen zu Deutſchen zu machen. Die Folgen biefes Wahnes erleben wir jeßt. Ein Jahrhundert iſt vergangen und die „Sermanilation,“ von der Wrangels enger Kopf das Heil erhoffte, ift nicht vorgejchritten; bie Polen find reicher, wirth⸗ Ichaftlich tüchtiger geworben und ſchicken gefchlojfene Proletariermafjen bis an den Rhein. Der Einzige, der das Ziel deutlich fah, war Guſtav von Goßler. Er hatte als Rultusminifter den polnischen Spradunterricht in ben Schulen der Oſtmark ab« geihafft. Als er dann aber Oberpräfident von Weftpreußen geworden war, merkte er bald, daß e3 nicht darauf ankam, die Polen zu ärgern, fondern darauf, die Deut- ſchen zu jtärken. Beſſeren Boden, höhere Feldfruchtpreiſe, eine jeßhafte Arbeiter- bevölferung vermochte der neue Oberpräfident nicht Herbeizugaubern; die einzige Möglichkeit, die Produftivfraft des Landes zu fteigern, bot der Verſuch einer Induſtria⸗ Yifirung. Wenn die Deutfchen im Often Geld verdienen und behaglich Ieben, werben fie mitden Bolen fertig; ſonſt nicht. Jetzt iſt Goßler geftorben. Willman nım warten, bis die Deutjchen fi) einmüthig um bie nationale Fahne I haaren ? Oder fich auf Feſtreden verlafjen und bie Erfahrung erneuen, unter der in Böhmen die Deutjchen leiden? Einen Goßler wird man nicht leicht wieder finden. Und ſelbſt biejer gebildete, vor⸗ nehme und energiiche Dann ſah fich oft genug zur Ohnmacht verdammt, weil er in der Centralinſtanz fein Berftändniß für jeine Pläne fand. Die Wahl der Führer für den Markomannenkrieg iſt wichtig; nur faturirte Männer ohne perjönlichen Ehr- geiz und ohne Bureaufratenbrille find da zu brauchen, Dlänner, die nicht nach Berlin wollen, fondern bereit find, ihre ganze Kraft an bie Loöſung des Oſtmarkenproblems zu ſetzen. Die Hauptfache aber ift, daß diejes Problem endlich klar erkannt wird. Batbetifer und Phrafter Jollten ſich Tummelplätze Juden, die minder gefährdet find als das Kolonialgebiet an der Weichjel und Warthe; den Polen werden fie National» gefühl und Sprache nicht nehmen, den fremden Volksſplitter nicht aus dem Boruſſen⸗ fleijch reißen. Laßt die Polen ihren Weg gehen, jcheltet fie nicht, Schmetchelt ihnen nicht und jorgt, ftatt an unnügliche Tracaflerien bie Zeit zu vergeuden, bafür, Daß im Often der Deutfche unter Bedingungen, die annähernd den in anderen Provinzen geltenden gleichen, fich jelbjt und den Stindern ein erträgliches Dafein erarbeiten kann. Mit Hurrarufen, mit deutichen Liedern und deutichen Feſten wird nichts er= reiht. Wenn wir nit einen Krieg führen wollen, um den armen Oſtmarken ein Hinterland zu Ichaffen, dann bleibt nur der Verſuch, fie aus langer Erftarrung zu löſen und ihre Lebensfähigkeit zu fihern. Dazu find nicht „erhebende Tage” nöthtig, fondern Jahrzehnte ftiller und ftetiger Arbeit. Der Worte find nachgerade genug ge⸗ wechſelt. Die Oſtmarken brauchen Geld; nicht Staatsſpenden nur, nein: Geld, das aus ihrem Boden, aus der Lebensleiftung ihrer Bewohner gewonnen wird. Die Hunbertmillionenfonds find beftimmt, Düngmittel für den armen Boden zu liefern; düngen aber foll man nur, wo man eines Tages auch ernten zu können hofft. Muß ſolche Hoffnung eingefargt werden, dann find die Oſtmarken dem Deutjchthum verloren.

Serandgeber und verantwortlicher Nedalteur: M. Harden in Berlin. Verlag der Zukunft in Berlin. Drud von Albert Damde in BerlinSchöneberg.

Berlin, den 11. Oktober 1902. TI) ur

Sola.

oulevard Montmorency. Das Eßzimmer des Künftlerhaufes, das die Brüder Goncourt in Autenil gefauft Hatten und das weltberühmt ward, feit Edmond es, nach des Bruders frühem Tode, in einem.feinen Buch befchrieben hat. Japan und achtzehntes Jahrhundert. Ein Märzabend. Daudet, Zola und der Hausherr beim Dahl. Der kränkelnde Daudet muß feinen Magen fchonen. Um fo mehr ißt Zola. Gut effen zu lönnen, hat er einmal zu ®oncourt gefagt, ift meine höchfte Wonne; ich Habe nurdiefes eine after und bin ganz unglüdlic), wenn mir nichtS Leckeres vorgefegt wird. Jetzt ift er fatt, ſtreckt jich, lächelt den heiteren Bildern der Watteautapeten behaglich zu und wird beim Kaffee geiprächig. Daudet erzählt von feinen An⸗ fängen, von den Hungerjahren, die ihn doch fo Löftlich dünkten; feine Bücher wurden noch nicht gefauft, aber er war frei, nicht mehr Dienftmann eines launiſchen Herrn, und fonnte leben, wies ihm gefiel. Ja, fagt Zola, wir habens nicht leicht gehabt; und die Freunde willen fchon, mas nun fommen wird. Ein elendes Loch als Wohnung, Mantel und Hofe beim Pfandleiher, keine Möglichkeit, auf die Straße zu gehen; im Hemd faß er am Schreibtifch und da8 Mädchen, mit dem er zufammenlebte, rief lachend: Aha, heute wird wieder mal Arabergefpielt! Emile achtete des Spottesfaum. Erbefann einen Rieſenplan, ein ungeheures Epos, das die ganze Geſchichte unferes Planeten umfaffen ſollte. Drei Theile: Genejis, Menfchheit, Zukunft. Moderner als Hugo, größer als Balzac. An dem Erfolg zweifelte er nicht; er war fo jung, fo ſtark, fo unfinnig glücklich: ihm gehörte die Welt. Später, als er jieben Treppen hod) in einer Dachfammer hockte, wars ihm noch nicht hoch genug; er kroch durch die Luke und Hletterte bi8 zum Firft. Da faß er, neben dem 4

50 Die Zukunft.

Schornftein, Stunden lang, fah auf Paris herab und träumte von dem Tage, wo die eroberte Stadt ihm zu Füßen liegen würde. Denn erobern mußte er fie; dem guten Alphonfe mochte die Freiheit von läftiger Frohn genügen: Zolas Sehnen fuchte einen Platz ımter den Heroen der Menjchheit. Und war er feit den Dachlammertagen feinem Ziel nicht fchon näher gelommen? Die Leute ſchimpften, aber fie fauften; kein lebender Romancier hatte ſolche Auf- lageziffern. Und dabei noch nicht Fünfzig, alfo noch weit von der Greiſen⸗ jchwelle. Wieder ftredt er fich und greift nach dem Glas und lächelt felig, als tränke er mit einem begeifterten Volk auf fein Wohl, das Wohl des un- überwindlichen Siegers, und merkt gar nicht die böjen Schlänglein, die um die Lippen der Freunde züngeln. Damals trank er noch bei Tiſch. Bald danach wurde des Leibes Fülle ihm unbequem, er mied, aufRaffaellis Rath, Brot und Wein und wurde wieder fo ſchlank, wie er gewefen war, als Manet ihn malte. Er war immer ängftlich und abergläubig; als er fich in Diedan eine Billa bauen ließ, erfann er einen befonderen Fenſterverſchluß; 8, dann 7 war feine Glüdszahl; und er zitterte vor jeder Siechthumsgefahr. Nur nicht lange leiden, nicht fühlen, wie von den Rädchen der Maſchine eins nach dem anderen roftet. Solches Ende paßt nicht für einen Heros, der im Gedächtniß der Menichheit-als Richtgeftalt fortleben foll. La mort de Flaubert oft fagte ers —, le foudroiement, voila la mort desirable.

Der Wunſch ward erfüllt. Er legte fich gefund ins Bett und wurde morgens tot gefunden. Kohlenorydvergiftung, hieß e8 in den erften, dunklen Berichten; jedenfalls Tann er nicht lange gelitten haben. Auch fein anderer Wunſch ift erfüllt worden. Auf dem weiten Rund der Erde gab e8 keinen berühmteren Mann. Jedes Kind kannte den Namen Zola. Freilich wars anders gefommen, als er auf dem Dadjfirft und an Goncourts Tiſch ge- . träumt hatte: nicht feine Dichtung hatte ihm die Herzen der Dienjchen erobert, jondern eine politijche Aktion, zu der er gedrängt worden war, er, der Berächter aller politischen Betriebjamfeit. Einerlei. Sein Ehrgeiz jchien be- friedigt. Zwar : ein großer Theil der Yandsleute hatte fich von ihm losgeſagt. Das konnte aber nichtdauern. Er war jeiner Sache ficher. Ein kleines Weilchen noch: und auch die jetzt Blinden lernten ihn bewundern. Er hatte die Sache der Menſchlichkeit vertreten, die immer die Sache Frankreichs ſein muß; und Frankreich kann nicht undankbar ſein. Einſtweilen fand er draußen Erſatz. Hunderttauſend, millionen Stimmen prieſen ihn als einen Heiland, einen Befreier von brennender Menſchheitſchmach. Eine hübſche Strecke ſeit dem Märzabend in Autenil. Dort aber, am Boulevard Montmorency, hat er

Bole. 5l

fein Wollen enthüllt. Zwifchen den Wattcautapeten, nad einem guten Mahl, plauderte ſichs fo behaglich. Und wer konnte ahnen, daß der artige Wirth jedes ZufallSmwörtchen aufzeichnen und aufden Büchermarkt tragen würde?.. Wir müffen dem Ausplauderer dankbar fein. Erſt das Journal des Gon- court hat ung den Menjchen Emile Zola erfennen gelernt.

Wir kannten den Dichter. Auch ihn mußte man erftaus diden Hüllen ſchälen. Er gab ſich für einen Mann der exakten Wiſſenſchaft, der finden, nicht erfinden, Gejehenes nur treulich darftellien wollte. Natur, nicht als Natur verhießer, Natur inder Spiegelung eines Temperamentes, das ſich aber nicht anmaßen durfte, die verite vraie zu färben. Nad) dem romantijchen Spuk follten wir endlich den Dienfchen ſehen, wie er leibt und lebt, wie die Wiſſen⸗ haft ihn befchrieben hat. An die Wifjenfchaft glaubte Zola mit der ganzen Inbrunſt einer angitvollen Seele, der man die Götter geraubt hat und die baftig nun auf der Erde nach Stügen jucht. Wer auf ihn hörte, mußte über- zeugt jein, daß die Wiffenfchaft längſt alle Welträthjel gelöjt hat. Tugend und Xafter jind Produkte wie Zucker und Bitriol. Die Geſetze der Erblichkeit find fo befannt wie die der Schwere. Der Menſch handelt nicht, wie er will, fondern, wie er muß; und die Bedingungen diejes Müſſens find ung fein Geheimniß mehr. Wer bei Augufte Comte und Elaude Bernard, bei den engliichen Zuchtmännern und bei Taine den Kurſus durchſchmarutzt Hat, weiß Alles, kennt Alles, iftgegen Sfrupel und Zweifel für immer gefeit. Und hat er obendrein noch die Kraft des Gejtalters, dann ift er der Dichter, den die von trunfenen Ahetoren gelangweilte Dienfchheitlechzend erfehnt. Wie ein Hagelmetter prafjelten dieje grobförnigen Säte auf unſere jungen Köpfe berab und verwüjteten ringsum die Kindergärten. Wir freuten uns der Berherung und hörten ſchon das neue Gras wachſen. Es ijt jo Ichön, Son⸗ nenaufgänge zu ſchauen, jo herrlich, fagen zudürfen: Ich war dabei, als die Wahrheitgeborenmwurde. Verite, science, Poſitivismus, Determinismus, Naturalismus: Das ging damals wie geſchmiert. Was follten uns die Klaſſiker und gar die Romantifer nod) fein? Da das Dogma von der Frei⸗ heit des Willens zerbrödelt, der Menſch als das Nefultat der Abftammung, der Umgebung und der taufend Heinen und großen Urfachen erfannt ift, die von der Wiege bis zur Bahre auf ihn einwirken, hatte es feinen Zweck mehr, ben Konflikten nachzujpüren, die aus dem Aufammenjtoß eines Willens mit einer Leidenſchaft entitanden; jett galt e8, die Summe der Wirkungen ber- auszurechnen, die ein Menſchenſchickſal geftalten. Wir rechneten und waren höchſt ſtolz, wenn wir fanden, daß Alles ftimmte. Leute, dic ſchon länger lebten,

52 | Die Zukunft.

ſchon manche neuſte Mode mitgemacht hatten, kamen und ſprachen: Eure Wahr⸗ heit ijt ein Thorenwahn, Eure Wiſſenſchaft ein thönerner Götze; und was Euer Bola für feitftehende Ergebniffeerakter Wiſſenſchaft ausjchreit, ſchwankt entweder noch im Urtheil der Berufenften oder modert fchon neben anderen Abjurditäten. Die guten Bedanten, dachten wir, dürfen ihrem Mafronen- magen die neue derbe Koft nicht zumuten und flennen, weil ihnen die Sah⸗ nentorte verefelt wird, an der fie in der Gartenlaube fo lange ungeitört

ſchmatzten. Allmählich aber wurden wir älter, kannten ſelbſt ein Stüd Men⸗ jchenleben und fonnten vergleichen. Nein: jo wie bei Bola jah es in der Wirklichkeit nicht aus; nie war ung eine Nana begegnet, nie hatten wir auf Dienichenleibern ſolche Thierfragen erblict. Das follte beobachtet fein? Die Aeuperlichkeiten waren vielleicht; da8 Gewimmel in einem Dorf, einer Schnapsſchänke, einem Waarenhaus, einer Strifeverfammlung, hinter den Couliſſen, im Börfenfaal und auf dem Schlachtfeld war richtig wiederge- geben. Aber die Menjchen ſchienen ung zu einfach, zu geradlinig, zu ani» malifch. Sie erinnerten eher an die Ungethüme aus Gogs Reich ald an moderne Europäer; Delacroix fiel uns ein, der gefagt hat, durch Verein⸗ fachung, durch Befeitigung feiner, Verſtärkung grober Linien jei aus jedem Menfchenantlig leicht ein Thiergeficht zu machen. Und nun wurde Man-

cher, dervorgeftern noch blind bewundert hatte, rafch zum blinden Verädhter. Bola, Hieß es, tft „überwunden“. Seine Piychologie ift plump, feine Bhilo- ſophie armjälig, feine Sprache gemein. Er hat weder Geiſt noch Geſchmack,

er fchreibt für den Pöbel und kann verwöhnten Nervennicht3bieten. ... Auch dieje Zeit ift vorbei; und über den Dichter Zola dürften Verftändige faum noch ftreiten. Er war fein Realift, fondern ein Romantifer, ftammte nicht von Flaubert und Stendhal ab, jondern von Hugo, gab Vifionen, nicht verite vraie. So lange er ſich um den pſychologiſch merkwürdigen Fall be- mühte, blieb er unbemerkt; mit Recht, denn viele ſchmächtige Galliertalente waren beſſere Piychologen als dieſer Enfel einer Kandiotin. Sein Genie wurde erft jichtbar, als er große, allgemein interejfirende Stoffe griff und

Maſſen auf die Beine brachte. Da brauchte er ſich um Kleines, Subtileg nicht mehr zu kümmern, konnte er mit Chören, Leitmotiven, Stecbriefen auskommen. Seine Methode ift oft gefchildert worden. Im Mittelpunkt feiner Romane jteht immer ein ungehenres Symbol, die Berförperung einer Naturkraft oder einer ſozialen Nexcht, die eine willenloje, von dumpfen Trieben gefcheuchte Menſchheit in ihren RNieſenrachen fchlingt. So hatte es ſchon Victor Hugo gemacht; die Kathedrale in Notre-Dame de Paris,

Zola. 53

das Schiff in den Travailleurs de la mer waren ſolche Ungeheuer, die lebendiger ſchienen als das Menſchengethier, das ſie umſchlich. Zola hat den romantiſchen Aufputz abgeriſſen, den Mariendienft durch den Kybelekult er⸗ ſetzt und dann, mit der Keckheit des Autodidakten, behauptet, ſeine Schöpfung gleiche dem Weltbild modernſter Wiſſenſchaft. Darf dieſer Irrthum unſere Bewunderung ſchmälern? Nein. Zola bleibt, mag in feinem Werk Man- ches auch ſchnell verwittern, der große Epiker der alles Menfchenerleben de⸗ terminirenden Schidjalgmächte. Den Mann, der L’Assommoir, L’Oeuvre, Germinal geſchaffen hat, fann feines Papſtes Bannbrief, feine Artiftenbulle, fein prüdes Gefreifch aus dem Bereich der Weltliteratur jagen.

Er hat da8 Planetenepos, das er in feiner Araberzeit träumte, nicht gefchrichen; nicht fo gefchrieben, wie ers geplant hatte. Aber fein junger Sinn hatte die richtige Fährte erwittert. Im Augujt 1870, nad) den großen Siegen de3 deutjchen Heeres, fam er zu Goncourt gelaufen. Ganz verjtört. Nicht etwa wegen des Krieges ; was kümmerte ihn der Krieg? Nein. Ihm warein Licht aufgegangen. Flauberts Analyfe der Empfindungen, die überfeinen, nervdjer Bücher der Brüder Goncourt, ces oeuvres-bijoux waren nicht zu überbieten. Kein Pla mehr für dert Nachwuchs. Wo diefe Schnitter ge⸗ erntet hatten, konnte kein Junger auch nur ein Hälmchen pflücken. Was blieb einem Ehrgeizigen, der nicht als Epigone dahinmelfen wollte? Die Epopöe. Sein alter Traum. Ein Riefenwert, das durd) Maſſe die Maſſe zwingen foll. Zehn Bände mindeitens. Ce n’est que par la quantite des volumes, par la puissance de la er&ation, qu’on peut parlerau public. Solche Gedanken hatte er aus dem Verkehr mit jungen Künſtlern mitgebracht, den Courbetſchülern und Manetſchwärmern, mit denen der hisige Italerſproß in den jechziger Jahren täglich Stunden lang in einem Kaffeehaus der Aue de Clichy ſaß. Da hieß e8 immer: Die Meifter, die das Glück hatten, vor ung zu kommen, haben uns nichts übrig gelafjen; wir find verloren, werden nie Beachtung finden, wenn wir nicht Neues, nie Verfuchtes, nie Geahntes

entdeden. „Sehnfuchtvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“: fo nannte Soethedieanmaßenden Führer derdeutichen Romantik; ſo konnte man auch dieſe Jugend nennen, die nachIngres, Delacroix, Courbet, nad) Stendhal Balzac, Flaubert haftig Wirfengmöglichkeiten juchte und blinzelnd zu Hugos Ruhmesſonne hinaufitarrte. Sn L’Oeuvre hören wir fie wimmeln und toben, fluchen und ftöhnen, fehen wir aud) den jungen Hola, wie er gejehen jein wollte. Sandoz heißt er; romaneier naturaliste, als unfittlicher Schandſchreiber beſchimpft und doch dereinizige jaubere,tugendfame Bewohner

54 Die Zukunft.

des Pfuhles, den wir in Pot-Bouille rodyen. Sandoz fagt uns, was Zola eritrebt. „Die alte Geſellſchaft Liegt im Sterben, eine neue entfteht und auf neuem Boden brauchen wiraucheineneue Kunft. Weg mit den metaphyfifchen Hampelmännern! Iſts nicht Blödfinn, immer und ewig nur den Gehirn funktionen nachzuforſchen, weil das Gehirn das edle Organ fei? ‘Der Ges danke! Donnerwetter: der Gedanke ift das Produkt des ganzen Körpers. Paßt doch mal auf, mas aus dem edlen Organ wird, wenn der Bauch frank ift. Wir find Bofitiviften, Evolutioniften, und wir follten bei der Glieder- puppe der Klaſſiker ftehen bleiben und die Strummelmähne der reinen Per- nunft weiterftrählen? Piychologie heißt Berrath an der Wahrheit. Wir brauchen den phyſiologiſchen Menſchen. Den wollen wir ftudiren, in jeinem Milieu, das fein Handeln beftimmt, mit dem freien Spiel alf feiner Or- gane.“ So wollte Zola gejehen fein. Er fand die Himmel leer, den alten Glauben verbraucht, die Natur wie eine feindliche, des Bändigers fpottende Beitie vom Drenjchenneidgehaßt, vom Menfchenhochmuth veradhtet. Und er hatte fich an dem dünnen Modetranf der comtifchen philosophie positive beraufcht. Keine Metaphyſik mehr, weder Theologie noch Zeleologie; der Pofitivift Hat nur den Zuſammenhang der Erfcheinungen zu fuchen, jede Thatſache andie Bedingung ihres Entfteheng zu knüpfen, durd) Beobachtung und Erperiment die Wifjenichaft vom Leben vorwärts zu führen. Das war das Ziel. So, ungefähr, ftet8 in der Vorrede zur Fortune des Rougon. Diefe großen, vom Dichter unendlich oft wiederholten Worte haben fait alle Kritiker zu falſchen Urtheilen über Zola verleitet. Dan hat ihn platt, nüdh- tern, gemein gejcholten, einen falten Rechner ohne poetifchen Schwung, weil er jelbft fi für einen Nealiften ausgab, einen Mann exakter Wiſſenſchaft. Er wars nicht. Erwar und blieb ſein Leben langein Romantifer, der, umvon dengefrönten Ahnen unterjchiedenzumerden, das alte Brunfgewand mit den Modeliten des Poſitivismus putte. Es ift thöricht, ihm vorzumerfen, feine Theorien feien erjtens faljch und zweitens von ihm felbft nicht befolgt worden, Scheint Homer ung Kleiner, weil wir nicht mehr an Pallas Athene glauben? Schägen wir Wagner geringer, ſeit wir wiffen, daß er feine feuerbachiſch ge ftimmte Brünnhilde, als er Schopenhauer entdedt hatte, dieWeltverneinumg fingen ließ? Theorien welfen ſchnell, ſtarke Schöpferfraft aber zeugt fort. Wenn das Sektenkleid der Modernen Längft verfchlifjen ift, wenn ihr Hungerleider- mühen, reiche Vorfahren zu übertrumpfen und aus der Noth höchſte Tugend zu machen, nur noch belächelt wird, werden von den zwanzig Bänden der Rougon: Macguart drei, ſechs vielleicht ficher noch leben, wird man diejes terreftrifche Epos als die Niefenleiftung des legten Romantikers anjtaunen.

Zola. 55

Nur als Epiker iſt Zola zu begreifen. Er ſingt nicht den Zorn des Pe⸗ liden, nicht das Leid des fernhin verſchlagenen Dulders Ulyſſes; doch er be⸗ ſchreitet furchtlos die Rieſenſpur Homers. Seine Geſchichten ſind einfach; ihr Inhalt läßt ſich, wie der alter Volksepen, in einen Satz preſſen. Heiße Menſchenkinder pflücken in einem paradieſiſch prangenden Garten die Frucht, die Schlangenliſteinſt in Eden empfahl. Proletarier werden durch den Alkohol, Bauern durch den Trieb, ihre Scholle zu halten, ihrem Pflugſchar neuen Boden zu erobern, Mittelbourgeois durch Geldgier und Genußſucht ent- menjcht und finfen in dumpfe, nadte Thierheit hinab. Der ftrogende Leib einer jchönen Hure loct die Männchen in Armuth und Schmad. Ein ge- fundes, vom Geſchlechtshunger nicht heimgejuchtes Mädchen wird für fleißige Arbeit mit dem Märchenglüd einer reichen Ehe belohnt. Ein Künftler, der zu neuen Zielen neue Pfade jucht, erhenkt ich, weil er, allzu ſpät, jeines Kön- nens Schwächeerfennt. In einem kraͤnkelnden Hirn erwacht die uralte Mord⸗ Iuft der Höhlenbewohner und jagt den Beſeſſenen aus dem Wunderreich mo: dernfter Technik durch rothen Nebel zu bejtialifcher That. Das von allen Qua⸗ Iender Pubertätbedrängte Kindeiner Kupplerin führt das Lilienleben einer Le⸗ gendenheiligen, weilihr Die Verſuchung nichtlodend naht, weilfieim Schatten einer ehrwürdigen Kathedrale mit reinem Yungfrauenfinger Meßgewänder ſtickt. Oder wir jehen, wie ein Strife entfteht und endet, wie es in der Welt politiicherStreber, großer Gründer zugeht, wie eine Stadt ernährt, ein Pro« vinzneſt vom Ehrgeiz unterminirt, ein Neich an den Rand des Abgrundes geriffen und, aus taufend Wunden blutend, mit letter Kraft noch gerettet wird. Einfache Gefchichten von einfachen Menſchen, deren „befondere Kenn⸗ zeichen” in einem Stedbrief Pla& haben. Den Stedbrief befommen fie mit auf die Wanderfchaft und aus ihm wird, fo oft fie vor unferen Blick treten, ihr Hauptweſenszug vorgelefen; alle anderen Züge find wegradirt. Polizei- piychologie. Aber wars nicht ungefähr jo auch in der Homeriichen Schöpfung? Nur find ung Hellenen und Zroer fo fern, daß wir uns einbilden fönnen, jie jeten von einem einzigen Wollen erfüllt, von einer Zwangsvorſtellung bes berrjcht geweſen. Kriegern, die Bruft an Bruft fampfen und mit Wind und Wellen dann um ihr Bischen Heimathbehagen ringen, wäre foldhe Einheit des Willens und der Vorftellung zuzutrauen; und wir find ja ficher, find ftolz darauf, daß den Primitiven der Reichthum der modernen Biyche verfagt war. Aber eine parijer Eocotte, die nichts ift als Bexe, ein Theaterdireftor, der immer nur brüllt, er ſei Bordellwirth, ein Kunftrebell, der wie im Krampf umberfeucht, nur fein Bild liebt, nur von feinem Bilde träumt, nur

56 Die Zukmft.

on dem Unvermögen jtirbt, fein Bild zu vollenden: ſolche Menichheit haben wir nie gejchaut. Doch wir müfjen jie nehmen, wie fie ift, wie der Epifer fie brauchte. Ihm ift Alles gleich wichtig: das Pferd Trompette und die Kate Diinouche nicht weniger als der Forſcher, dem fich aus fchweren Wehen ein neuer Kosmos entbindet, der Staatsmann, der alte Grenzen verrüdt und betäubte, gefnebelte Völfer auf die Schladhtbanf fchleppt, der Organijator eines Riejenbazars, derganzen Kleinhändlerſchaaren die enge Lebensmöglich- feitraubt. Alles gehört auf fein Panorama. Er jcheut, wie Homer, Wieder⸗ holungen nicht, füttert, wie Homer, jeine Darftellung mit unveränderlichen Sapjtüden, eripart ung, wie Homer, nicht das Inventar ſeiner Arche. Und immer dröhnt oder ſummt, wie in Ilion, im Lager des Königs der Könige, um Penelopes Witwenfig, hinten irgend ein Chor: Bauern, Schnapsfäufer, Dienftboten, Fıfcher, Kaufleute, Grubenſtlaven, Künſtler, Brünftlinge, Spe- fulanten, Bettler, Soldaten. Wir hören, jehen, riechen fie; auch wenn ſie nicht jichtbar in die Handlung eingreifen, iſts, als rotte fich hinter einer mor= chen Dlauer ein Haufe, als rüttle da8 Gewimmel der unendlich Kleinen mit ungeduldiger Fauſt an wankendem, hohlem Gebälf. Man fühlt: da, hinterder Mauer, find noch Unzählige, die den Protagoniften aufs Haar gleichen, den Coupeau, Nana, Maheu, Hennebeau, Saccard, Claude Yantier, die nur als Sattungtypen vorn ftehen, nur al8 Typen der langen Rede werth find. Wer diefem Klingen einmal gelaujcht hat, wird es nie wieder vergeflen; in fein aufhorchendes Ohr hat der geheimnißvolle Chor, von dem die alten Dichter raunten, vermwehte, fladfernde Töne gefandt. Stendhal war der Meijter der pathologifchenSeelenanatomie, der erſte Mikrofkopiker der galliſchenLiteratur; Flaubert, Balzac, Maupaſſant haben Durchſchnittsmenſchen auf tragfähige Beine geſtellt. Durch Zolas Wortſymphonien brauftder Chor der unſichtbaren Mächte, die einer Zeit die Stimmunggeben, der Allgewalten, die am ſauſen⸗ den Webftuhl der Zeit das lebendige Kleid der Gottheit wirken.

Der Gottheit? Der dritte der trois etats Comtes ift ja erreicht: die Götter jind tot und über der Menſchen Häuptern thront nurnod) die heilige Wiflenichaft. Dod) das Epos kann ohne Götter nicht leben. Zola ſchuf fie fich ; und ſiehe: e8 wurden böfe, graufame, finjter dräuende Weltenbeherrjcher, Götter nad) dem Ebenbilde der bete humaine. Der Schöpfer taufte fie: milieux und brüjtete jich, nun fei alle Metaphyſik in die Leichenkammer ge: iperrt. Name aber ift Schallund Rauch. Die Schnapsichänfe des Gevatters Colombe, Mourets Waarenhaus, die Markthallen, in denen der Bauch von Paris gemäftet wird, Albines Paradiesgarten, dag Bergwerf Hennebeaug,

3ola. 57

das ſchmutzige Miethhaus der Aue Choifeul, Nanas Leib, die Ackerſcholle, an der, wie an einem nie alternden Liebchen, der Bauer hängt, das Meer, da8 die joie de vivre aufpeiticht und einlullt: fie Alle find Götter, find Menſchenbeweger, Dienichenfreffer, von anderer Wefensart freilich, doch nicht von geringerem Vermögen als Bofeidon und Phoebus. Sie leben, man hört fie athmen, fauchen, frefjen; und ihr Wille zwingt das Menfchengethier. Sie find die Hauptperfonen der Epopde und müſſen Deshalb immer wieder gejchil- dert, bis ins Kleinſte beichrichen werben, unter mechjelndem Licht, in jeder Tages und Jahreszeit. Da uns aber nicht Götter, Götzen, Symbole verheißen waren, da wir ing Innerſte der Natur dringenfollten, muß unten wenigftens Alles hübſch natürlich zugehen. Hübſch oder häßlich, wie mans nehmen will. Wir werden zu zwei⸗ und vierbeinigen Thieren in die Wochen⸗

ſtube geladen und dürfen nicht weichen, bis das Junge zappelt oder leblos

im Blut liegt; jeder Grad der Brunſt, jede Sexualverirrung wird enthüllt und in behaglichem Verweilen demonſtrirt; das dunkle Reich der Sperma⸗ tozoologie thut ſich auf; und wer die Augen ſchließt und ſich die Ohren ver⸗ ſtopft, muß mindeſtens riechen. Spekulation oder Exhibitionismus? Die Sucht, durch den Geſchlechtsreiz den Pöbel in die Bude zu locken, oder, nach Nietzſches ſchrillem Wort: „die Freude, zu ſtinken“? Vielleicht Beides nicht. Der Romantifer, der den Bofitiviften jpielte, mußte zeigen, daß er nicht über ein Rolfengebirge jchritt, der Götterbildner, daß eram Brennpuntt der Gat⸗ tung nicht Scheu vorüberjchlich. Die Chriftenaftele hat den Triebzur Baarung wie den Erzfeind befehdet, wie eine Schandeins Dunkel gepfercht ; der Natu⸗ ralift muß ihn ans Yicht ziehen, muß ein frohes Volk um Sankt Priaps Al- tärejammeln. Leruten pleinair! Aufdas Ewig- Animalische darf nur eine Dienichheit verzichten, die jich felbft verneint und in frommer Efjtaje des Weltunterganges harrt. Das erklärt freilich noch nicht Alles; in Zolas Wert könnte manche Seite von einem Mönch geſchrieben fein, deffen unge» ftilltes Verlangen in wüften Phantafien ausbricht. Wir find weit von der heiteren Sinnlichkeit der rabelaifilchen Welt ;etwaim Tempel eines düjteren Afiatengoties? „Und ich ſah das Weib fiten auf einem rofinfarbigen Thier ...“ Aber welche Wirkungen quellen dem Dichter aus feiner Be- jeifenheit, jeiner Luft an dem größten, einfadhften Symbol des Schaffens! Nana al8 Venus, Nana auf den Rennplag von taufend gierigen Wünjchen umheult, Nana, das Arbeiterfind, vor dem ein Graf, ein Kammerherr des Kaiſers, wie ein Hündchen auf allen Bieren kriecht; die Brautnacht im über- Ihwenmten Bergwerk; Claude, der in geiler Wuth dem gemalten Liebchen,

58 Die Zukunft.

das ich ihm nicht ganz geben will, das Meſſer in die Leinwandbruft bohrt; Saccard, deſſen ruchlofer Unzucht dennoch, im Börfenfaal und im Schlaf⸗ zimmer, Kraftleime entiprießen; die raſende Weiberfchaar, die den Erpreſſer des Sungferntributes entmannt : unvergeßliche Bilder... Manmuß fie nicht allzu nah fehen. Zolas Apokalypfe gewinnt überhaupt, wenn man fie aus der Ferne betrachtet. Dann fragt man nicht mehr nad) „feinen Zügen“, nah Menjchenähnlichkeit und Modernität, ftaunt nicht, daß dieſe Horde Siecher und Irrer die Schäte franzöfifcher Kultur häufen konnte. Dann treten, aus der wibbelnden, fribbelnden Thiermenfchheit, da und dort nur prachtvolle Typen und große Zeitſtimmungſymbole in graufer Schönheit hervor; und ins Erinnern tönt der Widerhall gewaltiger Symphonien.

... Das ift der Dichter der Rougon-Macquart. Was er unjerem Ver⸗ ftandezu fagen hatte, war nicht allzuviel. Der Menſch ift noch immerdas zwei⸗ zinkige Gabelthier, der aufrechte Vierfüßler und nur eindünner Kulturfirniß deckt die alte Beftialität. So hieß e8 Jahre lang. Mit dem Wohlftand, dem Weltruhm erft fam der Zweifel. Sind die Menſchen wirklich fo ſchlimm, heute noch ? Sie morden und rauben, aber da8 Yeben geht weiter; und man muß doch auch bedenken, daß fie handeln, wie fie handeln müffen. Mag die Familie Rougon-Macquart in Sammer und Schande verkommen und mit ihr da8 Vaterland niedergebrochen fein: das Kind des Doftors Pascal und feiner Klotilde faugt aus den Brüften der ftarfen Mutter neue Kräftezuneuem - Streben. Der Einzelnefündigt, jtrauchelt und finft; doch über feine Xeiche,über ftinfende Kulturbüngerhaufen hinweg fchreitet ein anderes Geſchlecht dem Siege der Gattung entgegen. Man hatte Zola als Pefjimiften verſchrien; jeit dem Börfenroman L’Argent war ers nicht mehr. Er war reich, welt- berühmt, konnte alle Koftbarkeiten, die ihm gefielen, in feiner Wohnung aufftapeln, überbot auf Auftionen fogar den Baron Rothichild. Und das Alles dankte er feinem vom Fleiß bedienten Genie. Er hatte Kompromiffe verjchmäht und dennoch gejiegt. Das war alſo möglich. Er hatte bisher faft nur mit Künjtleen und Literaten verkehrt; da erwachen ſozialkritiſche Reg⸗ ungen. Jetzt trat er aus feiner Schreibjtube und fand die Menfchen nicht fo übel, wie fie von fern ausgejehen hatten. Ganz brave Leute, die ihn an ftaunten; und robuste Perfönlichkeiten darunter. Wenn man fie nur in Ruhe ließe! Aber da find diefe langweiligen Dloralprediger, die immer von den Pflichten der Tugend ſchwatzen und nungar die Ausbaggerung des Panama⸗ jumpfes fordern. Lächerlich; ftet8 hat der Starleden Schwachen aufgefrefien, der feine Haut nicht wahrte. So wills die Natur; und der Naturalismus ifteine

Bola. 59

Weltanſchauung, nicht eine Runfttheorie. Die Banamiften ſpitzten das Ohr: mit ſolcher Weltanſchauung ließ ſich leben. Und da ihr Beifall den Dichter ſpornte, ſprach er zu der Republik: Hüte Dich vor den Tugendſamen und laß Deine ſchmutzige Wäſche nicht auf den Markt tragen; allzu grelles Licht iſt den Augen gefährlich; und jo weiter. Dieſe Mahnungen eines Satten, der die Be⸗ figredhtSordnung, überhaupt den Geſellſchaftzuſtand höchſt vortrefflich fand, wirkten viel ftärfer als alle Romane. Und nad) Wirkung hatte der Dichter ſich ja gejehnt, in der Hinterfinbe des Arabers, neben dem Rauchfang, in Auteuilund Medan. AmEndewarder Politiker, den er fooftverhöhnt hatte, nicht gar jo zu verachten... ‘Da fam die Affaire. Die Freunde des Herrn Dreyfus brauchten einen Itamıen. Coppee wollte nicht ins Feuer undempfahl Bola. Der hattezwar früher gejagt, die Beichäftigung mit Staatsangelegen- beiten tauge nicht für die Dichter, die im Lande der Politik immer dem Auge Heiner erjcheinen: ils veulent l’elargir de toute la largeur de leurs beaux sentiments et n’arrivent qu’a faire sourire. Das war aber lange her und hatte jich gegen Hugos unklare Weltbeglüderpläne gerichtet. Der Dann der exakten Wiffenjchaft durfte wagen, was dem blöden Schwär⸗ mer verboten war. Schreiben, nichts als fchreiben, Tag vor Tag; immer im Käfig boden, allein, ohne Reibung, die Wärme zeugt und den Schaffens⸗ drang fteigert; figen und auf ein Echo warten und binaushorchen, ob ſich die Diode nicht wendet, ob mit flatternden Fahnen nicht die Jugend heran zieht und den alten Meifter ins Altentheil treibt! Längſt hatten die Freunde gemerkt, daß Zolas Sehnen neue Ziele ſuchte. Sie hörten ihn feufzen: Sind wir nicht Narren, arme Monomanen, die fich jchinden und im Grunde vom Leben nichts Haben? Sollten wir nicht genießen, fo lange wir noch genuß⸗ fähig find? „Ich kann”, fagte er ſchon 1889 zu Goncourt, „kein hübſches Mädchen vorbeigehen jehen, ohne mich zu fragen: Iſt Das nicht mehr werth als ein Buch?” Er findet ein Mädchen, findet das Vaterglüd, das ihın die Ehe verjagt hat, und richtet fich zwiſchen zwei rauen behaglich ein; denn Frau Bola duldet das Aergerniß, pflegt die Kinder feiner jpäten Liebe und ift zufrieden, wenn fie für feine Ruhe, feinen Arbeitfrieden forgen darf, wenn er fienicht,wieleider fo oft, rauh anfährt und fievor derWelt die ihm Nächſte bleibt. Seine Lebensluſt wächſt; er, der für die politiciens ſtets nur Gift und Galle hatte, verkehrt nun mit Conftans und Bourgeois und Tann die quälende Re⸗ gung politifchen Ehrgeizes nur mühfam verbergen. Noch ſchwankt er. Der große, einjchlagende, weithin wirkende Erfolg ift nur von der Bretterbühne zu holen. Soll er, dvemnieein Drama gelang, noch einmalden Kampf wagen?

60 Die Zuhrmft.

Des romans, des romans, c’est toujours la m&me chose! a, menu er reden fönnte, mit feines Wortes Macht die Menge begeiftern! Er übt ſich zu Haufe; aber die Inſpiration will nicht fommen und er ſcheut die Gemein- pläße. Im Juli 1892 fchreibt Goncourt in fein Tagebuch: „Zola langt nad) der Beredfamteit eines Lamartine und möchte, um feine Laufbahn zu krönen, den populären Erfolg des Politikers an fich reißen”. Die Sehnſucht, „mal mas Anderes zu machen“. Was hater denn? Morgens figt er Stunden lang am Schreibtifch. Die einzigen renden find noch die Mahlzeiten ; nach⸗ mittags namentlich der Thee, mit dem er einen ganzen Paſtetenberg hin- umterfpült. Und die Kinder, die paar !yreunde, die Möglichkeit, theure Möbel, alte Kirchenfenfter, foftbaren Trödel zu faufen. Viel iftS nicht. Vom ewigen Schreiben wird man nervös; wenn ein Gewitter aufzieht, verfriecht er ſich ins Billardzimmer, fchließt die Fenfterladen, bindet ein Tuch vor die Augen: fonit haltens die Nerven nicht aus. Bon Thee und Paſteten wird man wieder did. Die Kinder entwachſen Einem, die Freunde fterben weg und am feltenjten Geräth jieht man ſich eines Tages fatt. Um wie viel beſſer haben es die Män- ner der That! Nur die Wonne unmittelbaren Wirfens ift neidenswerth.... Da kam die Affaire. Da winkte ein Heroenruhm. Aufs Sprungbrett! Der Dichter der Rougon-Macquart wurde zum Anmalt der Unſchuld. Seit er die Epiftel wider den Generalftab ſchrieb, lebt er als ein Hei- figer in der Xegende. Er war reich, heißt e8, auf des Ruhmes fteilfter Höhe, von Allen bewundert, ein ftill und glüclich jchaffender Dichter ; under jtürzte fi) ins dichtefte Gewühl, wagte Alles, Xeben, Freiheit, Vermögen, Ruf, um ber Gerechtigfeit zu dienen, um einen Menjchen zu retten, den fein Auge nie- mals gejehen hatte. Für diefe Heldenthat ward ihm zum vVohn: Verfolgung, rohfter Schimpf, Bedrohung an Leib und Leben; viele Freunde verließen, bethörte Maſſen ſchmähten ihn und Blatt um Blatt riſſen ſchmutzige Fäuſte aus jeiner Yorberfrone. Im grauen Alltagslicht fieht die That, fehen ihre Folgen nicht ganz ſo aus. Zola ſaß nicht ftill und glücklich in feinem Dichter» zimmer, fondern ſpähte nad) einem Kahn, der ihn zu neuen Ufern tragen fönnte. Sein Leben war nie ernftlich bedroht, nicht eine Sekunde lang und feine Freiheit Hat ervorjichtig gerettet: als er ind Gefängniß follte, floh er nach England. Erftandnichtallein: die ſtärkſten Großfapitaliften der Erde jauchz- ten ihm zu, hätten aufjeinen Wink Millionen geopfert ;er wardüber Nacht die hellſte Leuchte inIſrael; dieintellectuels,die über fein Werk dieNaſegerümpft hatten, witterten den Befreier von überliefertem Wahn und drängten ſich in ſein Lager; und dem Manne, der ganz in die bourgeoiſe Weltanſchauung hin⸗

Zola. 61

eingewachſen, dem Karl Marx nur ein kindiſcher Träumer war, wurden von den Jaurès und Millerand die Arbeiterbataillone als Leibwache geſtellt. Um an der Spitze ſolcher Schaar den Kampf zu wagen, braucht man nicht gerade den Muth eines Löwen. Zolas Gemeinde hat ſich verhundertfacht, feit er gegen Militarismus und Antiſemitismus ins Feld zog. Er war vorherdurchausnicht allgemein bewundert worden. Er hatte ein großes Publi⸗ kum und eine Heine, jacht Schon zufammenjchrumpfende Sekte leidenjchaftlich Gläubiger; Vielen aber und gerade den Wählerifchen blieb er der Rhyparograph, der mit unzüchtigen Bildern Gefchäfte machte. In feiner Heimath waren fast alle wichtigen Kritiker gegen ihn ; der angelſächſiſche cant lehnte den Naturaliften ab; und Herr Fritz Mauthner, einer der klügſten deutichen Literaturbefchauer, nannteihn einen schlauen Spekulanten, dem die eigentlich dichterifche Phantafiefaftvöllig fehle, der für die Hintertreppe arbeite und mit wahrer Wonne inder Jauche herumtrample. Wo find die Freunde, die der Dichter verlor, als er zum Ankläger wurde? Er hat werthvolle Freunde ges wonnen; Todfeinde find feine Apoftel geworden. Drei Beifpiele. Herr Bernard Lazare, der erfte Manager der Familie Dreyjus, hatte 1895 in feinem Buch Figures Contemporaines gejagt, Hola, deſſen Lebensleiftung er jehr gering ſchätzte, werde ſtets zu jeder Erniedrigung, jeder Berleugnung oft befannter Grundfäge bereit fein, um den Glanz feines Namens zu meh⸗ ren umd feiner unftillbaren Eitelkeit Nahrung zu bieten. Zola jchrieb den Anklagebrief und Herr Lazare beugte vor dem Genie des Dichters, vor der Heilandsherrlichkeitdes Menjchenfohnes das Knie. Herr Mar Nordau, der von Paris aus die Voffifche Zeitung bedient, vor der Affaire: „Ich glaube, daß es ſich bei Zola um bemußte, planmäßige Bauernfängerei handelt. Zola ift ein Entarteter; er ift in jehr hohem Grade mit Koprolalie behaftet. Es ist ihm ein Bedürfniß, ſchmutzige Ausdrüde zu gebrauchen, und fein Bewußt- fein ift fortwährend von Vorftellungen verfolgt, die fich auf Koth, Unter» leibSverrichtungen und Alles, was mit ihnen zujammenhängt, beziehen. Er leidet außerdem an mania blasphematoria. Daß er ein Sexual⸗Pſy⸗ chopath ift, verräth fich auf jeder Seite feiner Romane. Dafür, daß Zolas vita sexualis anormal ift, fiegen aud) andere Zeugniſſe al8 feine Romane vor. Bejondere Erregung verfchafft ihm der Anblick von Frauenwäſche, von der er nie fprechen kann, ohne durch die emotionelle Färbung feiner Schilder- ungen zu verrathen, daß diefe Vorstellungen bei ihm mwollüjtig betont find. Diefe Wirkung weiblicher Wäfche auf Entartete ift in der Sprrenheilfunde wohlbefannt und von Krafft-Ebing, Lombroſo und Anderen oft bejchrieben

62 Die Zunft.

worden. Zolas Erfolg erklärt fich aus feiner Gemeinheit und Schlüpfrigfeit.“ („Entartung.”) Der jelbe Herr Nordau nad) der Affaire: „Der bedauerns- werthe Mann hatte geglaubt, der Stoß feiner zweiundzwanzig Romane, der fich Hoch und ftolz wie eine Ehrenfäule erhob, werde ein Denkmal bilden, in deilen Schatten er dauernd alle Wonnen des Ruhmes empfinden werde... . Er war ein edler, todesmuthiger Held, ein ftahlharter und goldreiner Chas rakter.“ An Zolas Grabhügel ſprach Herr Anatole France. Er hatte an die Witwe telegraphirt: „Mit Ihnen trauert die Welt. Die Menſchheit hat einen ihrer ftärfften Geifter, eins ihrer größten Herzen verloren. Zolas mächtiges Wert lebt fort." Auf dem Kirchhof: „Zola hatte die Reinheit und Einfalt der großen Seelen. Er war gütig, im tiefften Weſenskern fittlid ; er war das Gewiſſen der Menſchheit.“ Der jelbe Anatole France vor der Affaire: „Ich beneide Zolanicht um feinen abjcheulichen Ruhm. Sein Werk ift Schlecht und man darf jagen, daß er zu den Elenden gehört, von denen zu wänfchen wäre, fie hätten niemals das Licht derWelt erblickt.“ Iſt esgenug ? Nein: dem Ruhm des Dichters der Rougon- Macguart hat der Feldzug für Alfred Dreyfus nicht geichadet. Sogar feine legten, unlesbaren Bücher, in denen Comtes politique positive zur gottlos pfäfftichen Traktätchen verarbeis tet war, wurden gefauft, ahnunglofen Beitunglejern als neufte Offenbarung modernften Geiftes aufgetifcht und mit verzüdter Miene bewundert. Der Menſch aber hatunter den Folgen des Feldzugesgelitten. Der Keltoromane, deſſen Vater öfterreichijcher Beamter geweſen war, iſt in Frankreichs Geiſtes⸗ Hima nie ganz heimifch geworden. Er fprach und fehrieb über das Land feiner Kinder wie ein Fremdling, den der Zufall an dieſe Küfte verjchla- gen hat. Unermüdlich geißelte er, Jahre lang, Gambetta als kleinen, un- wiſſenden Kneipenſchwätzer und lernte nicht begreifen, weldyen nie genug zu rühmenden Dienft der Diktator Frankreich erwies, da er, nach Sedan, lange gebundene Kräfte entfefjelte und die faft ſchon verzmeifelnde Volkheit empfinden ließ, daß ihrem wunden Schoß neue, köſtliche Triebe entfeimen fonnten. Spät erft, als der Dichter auf dem Markt tobte und den Schleier von Salliens Scham riß, merkten die Franzofen, daß er als ein Fremder unter ihnen gehaujt hatte... Wohl ihm, daß er jtarb ; die beiten Landsleute hätten ihm nie verziehen. Und er war ausgezogen, Paris zu erobern.

Hat er wirklich nur um Bewunderung gebuhlt? So einfach, jo ganz auf einen Willenston geftimmt wie in feiner animaliichen Epenwelt find die Menſchen in der gemeinen Wirklichkeit nicht. Doch er felbjt hat gefagt: Die Ehrfurdht vor dem Genie darf die Ehrfurdht vor der Wahrheit nicht hemmen.

-

Zola. 63

Und er hat gegen Victor Hugo, den er haßte, dem er mit ungeduldigem Finger den Kranz vom Haupt reißen wollte, das harte Wort Sainte-Beuves citirt: Son plus grand tort est dans l’orgueil immense et l’egoisme infini d’une existence qui ne connatt qu’elle: tout le mal vient de la. Des Wortes Spite wird ſich, troß dem Anklagebrief, noch oft gegen Zola wenden. Sein Ehrgeiz, fein Beifallsbedürfnig war unerfättli; und wenn man die Etapen feines Lebensweges abfchreitet, muß man am Ende fragen, woran diefer ſtarke Schöpfer wohl ehrlich, inbrünftig geglaubt habe. Er ver- dient fi) als Knappe der Freilichtmaler die Sporen, fchleppt, als er Geld hat, den älteften Trödelkram in feine Wohnung, die dem Raritäfenmufeum eines Börfenprogen gleicht, und jammert über die Häßlichkeit der modernen Bilder. Um die Ahnen zu überbieten, bannt er ſich jelbft in dem grauen BwingergefpenjtifcherCheorie, predigt den Menſchen von 1900 Comte undift ftet8 bereit, der®irfung die Wahrheit zu opfern, deren Streitererdoch jein will. Heute ift der Proteftantismus ihm das größte Hinderniß, das fich der vor⸗ jchreitenden Menſchheit entgegenthürmt; morgen ficht er in polirter Huge⸗ nottenrüftung gegen die Marienanbeter. Er höhntdie Politiker undredtdann gierig nach ihrem Lorber die Hand. Ermalt Jahrzehnte lang entkrönte, kaum der Thierheit entwachjene Menfchen, malt fie pechrabenjchwarz und brüllt dann, wieunterder Wuchteiner niederfchmetternden, unerhörten Kunde, auf, als er ſieht, daß auf diefer Schönen Erdeneben den Guten aud) Schlechte wohnen. Er wird ſechzig Jahre alt, ohneje gegen das thronende Unrecht einen Finger zu rühren; dann, als die Kraft ihm ſchwindet, ſchlüpft er ins Heilandskleid, ſchreibt Evangelien, weiß das Kreuz aber zu meiden. Sah er nie vorher den Uebermuth der Aemter, des Mächtigen Druck, der Stolzen Mißhandlungen, in einem halben Jahrhundert nie bis zu der Stunde, wo ein reicher Jude ihm unſchuldig verurtheilt ſchien? Victor Hugo, ruft er, iſt ein Narr, der uns nichts zu geben hat als den albernen Greiſenrath, in die Sonne zu klettern und uns dort in Brüderlichkeit zu umarmen; und er ſelbſt, der Naturaliſt, Delerminiſt, Poſitiviſt, dem Tugend und Laſter Produkte find wie Zucker und Vitriol, er ſelbſt ſchließt ſeinen frömmelnden Atheiſtentraktat mit der Weiſung, Haß und Neid, Stolz und Herrſchſucht abzuthun und als Brüder⸗ lein und Schweſterlein friedſam neben einander zu graſen. Wie viele Jahr⸗ millionen ſollen vergehen, bis die böte humaine dieſem Ideal reifift? Auf der erſten Seite der Rougon-Macquart fteht ja der Satz: L’heredite a ses lois comme la pesanteur. Als Voltaire für Calas kämpfte, für einen Toten, irdiichem Rechtsſpruch Entrückten, ftritt er für eim politifches Prins

64 Die Zuhunft.

zip, gegen die Gräuel eines faulenden Rechtszuftandes, von dem eran Dami⸗ laviſle jchrieb: Les formes, chez nous, ont été inventees pour perdre les innocents; als Zola für Dreyfus focht, ſprach er gegen die Lebens⸗ prinzipien der bürgerlichen &efellfchaft nicht das Ieifefte Wort, fondern er- zählte einen Kolportageroman von einem Bubenſtück, das ſechs oder acht hohe Offiziere gegen einen am Ende doch auch mit geringerer Mühe zu beſei⸗ tigenden Hauptmann tüdifch angezettelt haben follten. Laut erzählte ers, aufoffenem Markt, und war ungemein beglüdt, als alle Feinde Frankreichs ihm Beifall Heulten. Sehen fo die Erlöjer aus? Lärmte der Galiläer jo dem Erfolg nach? Sprach auch nur Tolſtoi je jo von feinem Goſſudar, von dem tyranniichen Tſhin? Aber Tolftoi... „Der gute Dann hat offenbar eine ſchadhafte Stelle im Gehirn“, fagte Zola. Gegen Große war er nie mild. Goethe? „Hatuns nichts mehr zu ſagen“. Kbjen? „Ein Spätlingaus den erfchöpften Lenden unjerer braven George Sand”. Nun hat aud) er den Nachruf dahin. Sein Anklagebrief, läftert der Fanatismus der Freunde, fein Schrei nach Gerecdhtigfeit wird länger leben als feine Poetenſchöpfung.

... In alten Gedichten rächen die Götter das frevle Walten der Hybris. Wenn Zola das Lebensepos Zolas zu fehaffen hätte, märe die richtende, rächende Gottheit der Poetenwahn, die Großmannsſucht des vom Selten- jubel betäubten homme de lettres, ein papiernes Ungethäm vielleicht, das ſich von Drudichwärze nährt, Eifenftaub athmet und Bücher fpeit. Und er würde, mit ber Gewalt feines ungallijch rauhen Wortes, das Ende des Boeten malen, dem reicher und armer Pöbelin die geputzte Gruft Hinabruft: Was Du in vierzig harten Jahren fchufft, wird vergehen, bleiben nur, was Du für unfere Barteifache thateft.... An einem trüben, ftürmifchen Februar⸗ tag wurde 1881 Doſtojewskij begraben. Der hatte nie Lärm gemacht, nie nach der Wage des Weltenrichters gegriffen. Den ſchmückte nicht eine Partei für die legte Reife: ein Volk drängte fich in die enge Kirche, neben den Groß⸗ fürften jchob Sich die nihiliftische Studentin, Bäuerleinbohrten fich mit [pigen _ Ellbogen durch dichte Beamtenhecken und für eine Stunde gabs in der Haupt: ftadt des Reußenreiches feinen Standesunterfchied. Das Vaterland trauerte um einen Sohn, der ein großer Dichter geweſen war, ber gelitten und vor Menjchenelend,auc vor dem efelften,mitleidig immer das Haupt gebeugt hatte.

ee

Zola als Kunſtkritiker. 65

Sola als Runſtkritiker.“)

BB“ Jahre 1866 fchrieb Zola feine Salonberichte für das „Evönement“, da8 fpäter der „Figaro“ wurde und damals bereit8 opportuniftifch war. As der Herausgeber Billemeflant von der Entrüflung erfuhr, in die Zolas Auffäge wegen ihrer -Begeifterung für Manet die Leſer verfegten, fügte er Salouberichte eines anderen Schriftfielerd ein, damit auch von einem milderen Geſichtspunkt der Salon begutachtet würde. Zola erklärte von dieſer Epoche: „IH war trunken von Jugend, von Wahrheit und Intenfität in der Kunſt, trunken von dem Verlangen, meine Glaubensfäge mit Keulen- Schlägen zu verfünden.” Eine kurze Weile fchrieben der grimme Zola und ber friebfertige Andrö neben einander, dann trat Zola aus. Er veröffent: fichte feine Auffäge über den Salon von 1866 in Verbindung mit einer Studie über Manet, die er im Jahre darauf fchrieb, in dem Bande „Mes Haines“.

Im Jahr 1896 wandelte den dreißig Jahre älter gewordenen Zola die Luft an, noch einmal über Malerei zu fchreiben und dabei zu unter- fuhen, was aus feinen VBoranfagen geworben fei. Er ſchrieb eine neue Beſprechung des Salons, die wieder zuerft der „Figaro* brachte. (Deutſch erſchien fte in der „Zukunft“ vom zwanzigften Juni 1896.) „Dreißig Jahre“, fagte er in diefem Bericht, „find vorübergegangen und ich habe ein Wenig aufgehört, mich für Malerei zu interefjiren. Ich glaube beinahe, daß ich nicht3 mehr Aber Malerei geichrieben habe, außer vielleicht in meinen Kor⸗ refpondenzen an eine ruſſiſche Revue, deren franzöfifcher Text niemals her- ausgefommen ift.” Durch den Tob war Zola von einigen feiner Freunde, durch die Wirren des Lebens von den anderen getrennt worden; das Fieber der eigenen Produktion hatte ihn den Weg zu den Werfftätten biefer Freunde nicht oft mehr zurädichreiten laſſen. Allerdings vergißt Zola, daß er in= zwifcden noch eine „Borrede“ (über Manet) fchrieb; doch bietet jie dem Lefer feiner erſten Manetſchriften nichts weſentlich Neues. Und fo enthält ber deutfche Band „Malerei“, der Zolas kunſtkritiſche Arbeiten von 1866, 1867 und 1896 zufammenfaßt, Alles, was von den Schriften des Autors in diefem Betracht wichtig umb erreichbar wer.

Zunächſt wird man von dem Verlangen erfaßt, zu fehen, wie jich der fehsundzwanzigiährige Zola als Kunſtkritiker verhält. Er ift jung; in der Vorrede zu diefem Bande fchreibt er einem Freunde, daß er die Salonberichte für das „Evönement‘“ verfaßte, fich des Pfeudonyms „Elaube* bediente, Un⸗ annehmlichleiten mit dem Herausgeber hatte: die Ale muß der Freund

*) Unter dem Titel „Malerei” werden nächſtens Zolas Kunſtkritiken bei Bruno Gaffirer ericheinen. Der hier abgedrudte Auffag wird den Band einleiten.

5

66 Die Zukunft.

eines fechSundzwanzigjährigen Autors aber fchon gewußt haben; Zola wird von nicht Anderem mit feinem Freunde gefprocden haben. Dennoh fagt ers diefem Freunde im Drud noch einmal und leitet die Borrede mit ben Worten ein: „Für Dich allein fchreibe ich diefe Zeilen“. Das war jung.

Er ift nicht allein jung, auch ein Südfranzoſe. Er fehreibt in diefer Borrede an Paul Cézanne, den Freund: „Seit zehn Jahren reden wir diber Kunft, und Literatur (er rechnet feine Gefpräche von feinem fechzehnten Jahre) ; wir haben fchredliche Haufen von Ideen in Bewegung gefegt; wir haben (von der Zeit, in_der wir fechzehn, bis zu ber Zeit, in ber wir ſechsund⸗ zwanzig Jahre alt waren) alle Syfteme unterfucht und zurücdgewiefen; und nach einer fo harten Arbeit... .“

Und er iſt elementar: „Und nad) einer fo harten Arbeit fagten wir und, daß es außerhalb des machtvollen und perjünlichen Lebens nichts als Lüge und Dummheit giebt!“

Zugleich häufen fih Säge wie: „mein Fleifch und mein Blut“... . „malt nah Eurem Herzen und Eurem Fleifhe” ... „unfer Herz und unfer Fleiſch durchdrungen“ . . . „Sich felber überliefern mit Herz und mit Fleiſch“ ... „kräftig denken“... . „eine vernichtenbe Logkk...“ Sehr bezeichnend ift fein Ausdrud: „wenige Seiten.” Schreibt er auch noch fo lang, er nennt e8: „Diefe wenigen Seiten“. Seiten, die Alles ausfchöpfen, nennt er: „Diefe wenigen, zu kurzen Seiten.” Seine Feder kann ſich nicht genug thun; der Schreiber bedauert e8, wenn er einhalten muß, wie e8 der Südländer bedauert, wenn er nicht mehr redet.

Doc bemerkt man, daß ber Lefer durch die ftändigen Wiederholungen zu der Ueberzeugung von der Richtigkeit der Anfichten gebracht wirb, daß die Dinge Harer werden und die Sprache mächtig ift.

In einigem Zufammenhang mit Zolas Geſundheit fteht, daß er eine Abneigung gegen Künftler empfand, deren Werke in gewifler Hinficht etwas Fragwüurdiges hatten. That fi die Wirkung foldher Künftler, ftatt auszu= bleiben, in dem Beifall beftimmter Cirkel fund, fo wuchs Zolas Widerwille nur noch. Diefer Widerwille verfchont jelbft den Freund nicht; er läßt ihn 1896 von Paul Cézanne dem Freunde der Vorrede als von einem „großen gefcheiterten Maler“ reden. Zolas Ziel ift Univerfalität des Er— folges. Gefühle, wie ein Gefunder jie beim Leidenden hat, hegt er gegen- über „unvolljtändigen, wenn auch begabten* Künftlern. Worte wie „madjt- vol“, „kräftig“, „Schaffen“, „in die Welt fegen‘ Kehren in feiner Schreib: gewohnheit immer von Neuem wieder.

Zolas Stellung zum Publikum: Es giebt Künftler, die das Publikum fehen, es giebt Künſtler, die e8 nicht fehen. Zola gehört zu Denen, die dag Publitum fehen. Bei einem Leitſatz, den er ausfpricht, fagt er „Das ift

L m an

Zola als Kunſtkritiker. 67

ein ſchweres Geſtändniß, das mir die Menge macht.“ Er ſagt ferner: „Ich will, daß kein Mißverſtändniß zwiſchen mir und der Menge ſei.“ Man wird daran gehen müfſen, von Zolas Selbſtgefühl zu ſprechen.

Bereits zu der Zeit, als Zola anfing, war es enorm, von einer ſpaßig wirkenden Größe, von einem den Spaß ausſchließenden Ernſt vielmehr, von einer Schwere, der nur noch feine Naivetät gleichkam. Beſchreibt er einen Gegenftand, fo fieht er ſich davor und fchildert ſich mit; wenn er ein Bud befpricht: „Man verfteht jest, mit welchem Intereſſe ich dies Buch habe leſen müſſen;“ wenn er eine Kunftausftellung darftellt: „Denket doch an Alles, was ein Temperament wie das meine, in bie Nichtigkeit dieſes Salons ver: fett, leiden mußte.” Er läßt fich über die zahlreichen Nachahmer hören, die Manet und Monet gefunden haben, und fagt am Ende: „Alle haben fih an die Rockſchöße meiner Freunde gehängt, nachdem fie fie beleidigt und nad- dem fie mich beleidigt haben“: was thut er zur Sache? Er kann ſich aber, als eine gefunde Natur, aus der Welt nicht hinausdenken. Er fieht bie Werke, die er zu befchreiben vorhat, außer biefen das Publikum und vor allen Dingen fein Ich; und er bleibt der Mittelpunkt für feine VBorjtellungen. Und er bietet auch einen Vortheil dar. Seine plaftifche Vorftelungstraft läßt ihn ein Ganzes fchauen: er fieht fich in Ausftellungen, fieht fi in ihnen einherwandeln; und indem er mit feiner prachtvollen dejfriptiven Begabung diefen Totalanblick wiedergiebt, führt er mit aufßerordentlicher Deutlichkeit auch den Hintergrund vor: die Gemälde. .

Und dann hat er Gemüthstöne; er ift kein Kiterat. Die filtive Bor: rede an den Freund it troß der Fiktion von echter Wärme. Wie fie warm und weich, fehmeichlerifch weich, einfegt, danach eine präzife, fachliche Dar⸗ legung folgt, die von einem heftigen Ausruf, wie von einem kurzen Peitſchen⸗ nal, einem entgegenftürzenden Lavaſtrom, abgefchloffen wird: Das ift un: vergehlich. Wenn danı die felbftbewußte Unterfchrift kommt, ahnt man, daß fih hier eine Kraft meldet, die emporfteigen und jich behaupten wird.

Zolas Selbftändigkeit, feine Wahrheitliebe (die die Frucht dieſes Selb: ftändigkeitgefühles ift) find wundervoll. In einem der Auffäge theilt er mit feidenfchaftliher Wucht I. F. Millet und TH. Rouſſeau Stöße aus und be: merkt am Ende, ein Freund habe ihm gefagt, fo dürfe er nicht fchreiben, als Koterie müſſe man zufammenftehen, feiner Partei nüglich fein, für bie Gruppe nichts als Lob haben: „Sch habe mich deshalb beeilt, diefe Heilen zu ſchreiben“, fagt Zola.

Einer anderen Gefahr, die vielleicht im franzölifchen Journalismus häufig ift, entgeht Zola weniger: dem Beraufchtwerden durch die eigene Leiſtung. Es kommt vor, daf er fich durch feine Beredfamleit hinreißen läßt. Gegen: über feinem Temperament hält er nicht fo leicht Stand wie gegenüber den Ansprüchen von Barteigenofien. Er kann in einen Taumel gerathen.

68 Die Zukunft.

Einmal giebt er dem Kummer Ausdrud, zu bem ihn die Entrüftung- rufe veranlaßten, die vom Publikum und den Künftlern gegen Manet aus⸗ geftogen wurden. Er bat vorher erkennen laflen, daß er Manet erft völlig begriffen babe, als er feine Bilder in feinem Atelier gefehen habe. Er hat auch bereits feftgeitellt, daß Künftler wie Courbet und Manet einander verneinen mußten, einander zu verfiehen nicht geeignet waren. Cr hat ſich auch ſchon dahin ausgefprochen, daß Manets Wahrheit nur eine Wahrheit für Manet war: Dies bildet felbft einen feiner Yundamentalfäge. Obgleich er wußte, daß fich alles Dies fo verhalte und daß unfer vom Maſſenempfinden ge= leitete und zugleich individuelles Sehen nur allmählich dem mächtigen Zwange, von einem anderen Auge abhängig zur werden, unterworfen werden kann, ging Bola dazu über, daß Publikum und die Künftler anzuflagen, abfichtlich hätten fie getban, als verftänden jie Manet niht. Trotzdem trennt eine Kluft felbft bier Zola von der üblichen Ausdrudsweife der franzöfifchen Zejtungwelt.

Zunächſt ift feine Kampfweiſe anders. Seine Kollegen waren Jong⸗ leure: Zola kämpft geradeaus, padt von vorn an, berferkerhaft. Dann fällt ein Feines Wort auf. Zola äußert an biefer Stelle: „Es amufirt mich enorm, bie großen Züge menfchliher Empfindungen zu fiudiren, die die Menge durchſtrömen und fie aus ihren Betten reißen.” Gerade dies Wort : „Es amufirt mid enorm” wirkt, wenn man nicht darüber hinmeglieft, bes langreich; c8 würde einem der für Paris typifchen Journaliſten in Zolas damaligem Alter nicht entfghren fein. Selbft wenn einem der Chroniqueure der Einfall gelommen wäre, würde er ihm eine feichtere, eine pariferifchere Faſſung gegeben haben. Zola wirkt zu einfach, als daß er ſich mit einem parifer Journaliſten verwechleln Liege; er richtet fich vor unferen Augen in einer gargantueslen Mafligfeit auf und fteht riefig neben feinen Kollegen.

Als er über Manet fchrieb, war er ein Romancier von ſechsundzwanzig Jahren, der jich einem dreiunddreißigjährigen Maler in dem Sinn näherte, daß der Maler einen Erfolg noch nicht gehabt hatte und der Romancier ſich in Mandem ihm ähnlich fand.

Bola fprad von Manet „de pair“, definixte ihn richtig, wenn auch mit dem Nebenton: „Ungefähr bin ich der Erfte, der Manet lobt." Durch diefen Nebenton fommt es, dag die Manetauffäge, ftatt einem Dentmal für einen Künftler zu gleichen, etwa® Unruhoolleres find, ein Kampffeld für die Diskuſſion.

Zola nahm Manet in feine Hände. Er liebt Manets Bild ber „Tpanifchen Zänzerin“ weniger als Manets Bild der „pariler Straßen- fängerin”: weil er jelbft ein Schriftfteller ift, der Paris darftellt und entzüdt ift, auch einen Malerkollegen Paris darftellen zu fehen, während er nicht ganz mit ihm zufrieden ift, fobald er nad Spanien ſchweift. Es ift nur

Zola als Kunftkritifer. 69

eine Nuance, doch ift fie ſichtbar. Dan wird erft in einem gewiſſen Alter ein Kunftfreund. Erſt jenfeitS der Parteianfchauungen erreicht man bie Ruhe, die Reerheit der Programme trog ihren Borzügen ihre Leerheiten einzufehen. Auch wenn Bola nicht ein Romancier, wenn er einfach ein junger Kunſtkritiker gewefen wäre, würde er einen foldhen oder einen anderen Fehler begangen Haben. Die Malerei gerade des Bildes der „fpanifchen Tänzerin“ ift wunderbar (weit fchöner als bie ber „parifer Straßenfängerin“).

Bon diefem Irrthum abgefehen man findet ihn in Zolas Vorrede zum Satalag der Manetausſtellung von 1884 bereits ausgelöfcht ift Zolas Darlegung von Manet3 Kunſt unglaublih gut. Das Talent des Schriftfteller8 feiert hier Trinmphe. Nie ift eine Malerei befier außeinander- gelegt worden. Zola führt alle Momente vor, durch bie ih Manets Malerei von anderen Malereien unterfcheidet. Er giebt den allgemeinen Eindruck ber Bilder Manet3 wieder, ihre Befonderheiten, ihren Reiz. Er fchildert objektiv, bewundernswürbig. Man muß flaunen, wie er das Wort „zarte Richtigkeit“ angewendet hat; mit feinem konnte Manets Anfchauung abäquater bezeichnet werden. In überzeugenber Weife zeigt Zola, wie Manet ſich be gnügt, richtige Töne zu jehen und fie danach neben einander auf die Lein⸗ wand zu bringen. Manets Gemälde fteigen vor dem Auge des Leſers auf.

In der Würdigung Maneis verband Zola das Talent eines Sach— walters, der eine Angelegenheit zu wirkfamer Darftellung bringt, mit der Pflichttreue, die Jemand hat, der ein Inventar aufnimmt und fein Detail unberädjichtigt laffen will, einer Treue, die vielleicht bei fo viel Talent noch höher einzufchägen ift al8 die Anwendung des Talentes.

In feiner Ausdrudsweife hat Zola etwas fortlaufend Kompaktes; es ift eine Sprache ohne fprachkünftlerifche Berechnung; fie ift bürgerlich. Sie fcheut fich nicht vor einfachen Wendungen, wenn fie fich einftellen, nicht vor dem nächftliegenden Wort, wenn e8 kräftig if. Man würde bei den Gon⸗ courts mehr Fineffe finden; man empfängt bei Zola eine deutlichere VBorftellung.

Und Der bewundert Zola vielleicht am Meiften, der die Unterſchiede fennt, die Zolas und Manets Temperamente getrennt haben.

Unter Zolas Worten über die Kunft ift keins fo berühmt geworden wie fein: „Ein Kumftwerk if sin Winkel, der Schöpfung, geſehen durch ein Temperament." Diefer Ausfpruch paßte für Manets Gemälde, die Zola unter Der Boransfegung von neuen Erſcheinungen kommentirte, fo ausgezeichnet, dag die Meinung jich entwideln konnte, Zola habe dies Wort im Hinblid auf Manet gefchaffen.

Dem ift nicht fo; der Ausfpruch erfcheint vielmehr in Zolas Schriften, fhon ehe er Kunſtkritiken verfaßte. Zuerſt erfchien er in ber Beſprechung eines von dem Spzialiften Proudhon verfaßten utopiftifchen Werkes, das zweite Mal in einem Effai über Taine.

70 Die Zuhmft.

In einem das Bauberbild einer zulünftigen Stadt vorführenden Buch hatte Proudhon den Künftlern in ihr die Rolle zugedacht, daß ſie die Menfchen belehren und ihnen zu Dienften fein follten. Hiergegen wandte Gh Zola. Er erwiderte, es fei irrig, die Aufgabe von Kunftwerken darin zu erbliden, daß eine verflärte Vorftellung von der Natur und von ung zu Sunften einer Vervolllommnung der Menfchen gegeben werde. Nicht dann erfteige die Kunſt den Gipfel, wenn ein Kunſtwerk das Erzeugniß einer ganzen Epoche fei, in der Plaftit Egyptens, im Kirchenbau des Mittel⸗ alter, nur dann, wenn ein Kunſtwerk perfönlich fei. Es gebe eine Kunft der Nationen, doch Zola ziehe ihr die Kunſt der Individuen vor; nur diefe zerreiße ihn das Herz. Nur ein folches Kunſtwerk Iebe für ihn, das eine Driginalität habe. Einen Menfchen müſſe er in einem Kunftwerf wieder⸗ finden, fonft laffe ihn da9 Kunſtwerk kalt. Proudhon, der Wahrheitapoftel, fönne von dem KHünftler nichts Anderes verlangen, als daß er fich jelbft

‚gebe; unmöglich könne er verlangen, daß fi ein Künftler. mobele, daß er

fi verleugne, daß er fi verwandle, daß er Lüge. Ein Ein Kunſtwerk ſei ein Winkel der Schöpfung, geſehen durch ein Temperament.

Die Idee zu diefem Ausſpruch hatte Zola aus einer Kunſtdefinition Taines geholt. Allerdings hat erſt Zola und damit that er etwas Großes, der Definition eine ſolche Faſſung gegeben, daß ſie, leicht einleuchtend, alle Länder durcheilte und auf die Kunſt mit einer verjüngenden Kraft wirken konnte. Taine hatte (auf eine etwas trockene und mathematiſche Art, nach der richtigen Behauptung Zolas) die Erklärung gegeben: „Ein Kunſtwerk bat den Zweck, irgend einen weſentlichen oder auffallenden Charakter, be= ziehentlich eine Idee klarer und vollſtändiger zu offenbaren, als es in dem Gegenſtande ſelbſt liegt. Um dahin zu gelangen, führt der Künftler bei der Wiedergabe des Gegenftandes eine Veränderung in dem Verhältnig feiner Theile herbei, fo daß ein beftimmter Theil auf eine fyftematijche Weife her- vorgehoben wird.“ Zola führte aus, daß, was Taine als einen „wefent- lichen Charakter“ bezeichne, mit dem „deal“ der Dogmatifer zufammenfalle; nur fei der „wefentliche Charakter” ein ſchönes oder nad Umftänden häßliches Ideal. In Rubens’ „Kirmeß“, führte er nah Taine aus (ein Bild von Rubens im Louvre), fei die Raſerei der Drgie das deal, in Raffaels „Galatea“ fei das deal eine ftolze, reine, liebliche Schönheit. Michelangelo habe die Muskeln verftärkt, die Lenden verdreht, manche Glieder auf Koften der übrigen vergrößert. Hierdurch) Habe er von der Wirklichkeit fich befreit und Riefen feinem Herzen gemäß gefchaffen, die an Schmerz und Kraft chredlich fein. Die Erflärung Taines befriedige alfo nach zwei Seiten: fie made den Künftler unabhängig von der Natur und zwinge ihm doc die alten „Geſetze des Schönen” nicht auf; fie weile den Künftler an, die

Zola als Kunftkritiker. 71

Natur nicht zu kopiren, ſondern zu interpretiren und fich Iediglich durch die Art beftimmen und lenken zu Laffen, wie feine Augen befchaffen find. „Sch fpreche meinen ganzen Gedanken aus*, fuhr Zola fort, „indem ich fage, daß ein Kunſtwerk ein Winfel der Schöpfung ift, gejehen durch ein Temperament.“

Es ſchadet nicht, wenn wir durch dieſe Teklärung zu dem Gebanfen bewegt werben, daß mande Kunſtwerke in das Kunftgewerbe gethan werden möfjen. Wir übergeben fie dem Sunftgewerbe in der Einſicht, daf es manches Richtige hat, Dies zu thun, und mit der Ueberzeugung, daß fie auch dort gut aufgehoben find, daß e8 überhaupt gleichgiltig iſt, wo fie find, da wir jie überall zu lieben vermögen. Für die meiften uns befchäftigenden Kunft- werfe und für alle Hervorbringungen der Lebenden, die uns interefjiren, ift Zolas Erklärung zutreffend.

Manchmal vergigt Zola freilich feine Definition. Bei der Beiprechung eines Gedichtbandes von Victor Hugo fagt er: „Wir fingen von Feld und Wald, wie fie find; Victor Hugo befteigt den Pegafus, um fie zu befingen“. Wenn Victor Hugo feine „chansons des rues et des bois* fingt, ſieht er die Natur duch einen Schleier; und wenn Emile Zola „Germinal“ Schreibt, fieht er die Natur durch einen Schleier. Alle Künftler fehen die Natur durch einen Schleier. Immer iſt ein Schleier zwifchen ihnen und ber Natur. Sie erkennen die Objekte nur durch ihren Schleier gefehen; würden fie fie ohne Schleier jehen, fo würden fie feine Künftler fein; der Schleier ift die Bedingung ihrer Kunft, der Schleier ift ihre Kunſt. Die größere oder geringere Durchläfligkeit ihres Mediums und da8 Gewebe des Schleier8, der ihr Auge verhält, ift Etwas, wodurch es den Aeſthetikern ermöglicht wird, Nomenklaturen zu geben. Sie beftimmen danach, ob die Künitler Idealiſten, Realiften, Romantiter oder wie weit fie es find.

Man lernte durch Zolas Sag Etwas von dem Spielraum verftehen, den man neuen Sunjterfcheinungen gewähren muß. In einer Ausdruds- weife, wie fie kaum glüdlicher gewählt werden konnte, führte Zolas Definition einem Kreis, der über den ber von der Kunſt Berührten. hinausgeht, ein Geheimniß vor, da8 um das Entftehen von Kunſtwerken waltet. Schon ift es eine Gemeinde, die zu ahnen anfängt, wie Kunſtwerke entftehen. Zola gab ein Kriterium.

War e8 freilich eins?

Auf die Frage: Welches Werk werden wir als ein Kunſtwerk anfehen? gab Zola eine Erwiderung, durch die eine neue Frage hervorgerufen wurde: Welche Temperamete find echt? Das Nachdenken hierüber, ob ein Temperament urjprünglich ift oder ob e8 auf Nachahmung oder Affeftation beruht, giebt zu nicht geringerer Meinungverfchiedenheit Anlaß als die Frage danach, welches Werk ein Kunſtwerk fei und welches fein“.

72 Die Zukunft.

Denken wir an Besnard. Zola hatte von diefem Künftler, ber Frauen malte, bei denen bie eine Wange vom Monblicht blau, die andere durch einen Lampenſchirm roth beleuchtet war, in feinem Salonbericht von 1896 bie gewiß in vielen Beziehungen richtige Meinung geäußert, daß er ber Affe eines Temperamentes fei. Andere hatten anders geurtheilt. Einer, Roger Marx, hatte fogar gefunden, da wir in Besnard den größten franzöfifchen Küuftler feit Delacroir hätten. Ohne Zweifel hat Roger Dar einen Unfinn ausgefprochen. Würde aber vielleicht nicht auch Zola fpäter in fein Urtheil über Besnard eine Einfchränlung gebradht haben? In welcher Stärke?

Durch eine ſolche Erwägung wird jeboch nicht der prinzipielle, der moralifche Werth der Erklärung Zolas unterdrüdt. Diefe behält ihre Vor⸗ züge, ob fie untrügliche Merkzeichen gewähre ober nicht; denn bei ber Frage, wie ein Kunſtwerk entftehe, befindet man ſich auf einem fo dunklen Gebiete, daß der Hinweis auf einen Pfad, auch wenn die Fußſpur nicht überall ſichtbar fcheint, Alles ift, was erreicht werden fan.

Dur manche Bariationen bat Zola bie Idee, die er vom Charalter bes Kunſtwerkes hat, erläutert. Er hat gejagt: „Ein Kunſtwerk ift die Ver⸗ bindung eines Menſchen mit der Natur. Das Element bes Menſchen ift ewig ein anderes, das ber Natur bleibt beftändig das gleiche; die Zahl der Möglichkeiten für ein Kunſtwerk ift unendlich; fie ift fo groß wie die Zahl der Individuen.“ Er haßte Dem gemäß alle „allgemeinen Regeln“. Oder: „Kunſtwerke gehen aus der Berfon hervor wie die Galle aus ber Leber.“ Oder: ihm feien alle Kunſtwerke ungefähr in gleichem Maße intereſſant, fobald jie der Ausdrud von Individualitäten feien (fo weit konnte in Zola der Doktrinär gehen)... Eimen prächtigen Gegenfag führte er aus zwiſchen „faire de l’Art“ und „faire de la Vie* (im Deutfchen nicht fo prägnant wiederzugeben); und er fagte, da8 Wort „Kunft“ hafle er, indem es in ihm die Vorftellung von Arrangements wede. Er fagte felbft, jeder Künftler folle ein Wort fagen, das geftern noch unbelfannt war, und nützte auch durd) ſolchen Ausſpruch vielleicht immer noch mehr, als er fchabete.

Er geht bei vielen Anläffen ins Extreme: nicht der ältefte Romantifer hätte ein leidenfchaftlicheres Verlangen nach Kontraften gezeigt als Zola, da er, von der Hellmalerei des Salons von 1896 zurüdgelommen, fich nad Rauheiten und Dunkelheit fehnte.

Diefer das Erzeflive liebende Kritiker wollte dennoch in ſeiner Kritik „je dis ce qui est“ jagen.

Taines Ausfpruh: „Menſchen mit befonderen Fähigkeiten foll die Kritik phyſiologiſch und pſychologiſch ergründen“ wurde von Zola richtig ge- funden. Er fand, er lebe im einer pofitiviftifchen Zeit, in einer Epoche pſycho⸗ logifcher und phnfiologifcher Analyfe und verglich fi am Xiebften mit einem

Zola als Kunſtkritiker. 73

Arzte, der fi über einen Patienten beugt, ans Nachbarbett geht, weiter forfcht und mit einer Fülle von Leidenfchaftlofen wiſſenſchaftlichen Feitftellungen das Spital verläßt.

Er fagte von der Kritik: „Was in der Kritik über das SKonftatiren hinausgeht, iſt Frivolität und Yanatismus, überflüffig und verbrecheriſch.“ Und vom Künftler: „Der Künftler arbeitet nicht im Namen Aller, nicht, um Allen zu gefallen: er arbeitet für jih, um fi zu gefallen; er foll nicht denfen wie ich und für mich arbeiten: er foll denken wie er und für ſich arbeiten.“ Er jagte aber von Eorot: „Wenn Corot einwilligen wollte, für immer bie Nymphen zu töten, mit denen er feine Haine bevölkert, und jie durch Bäuerinnen zu erjegen, fo würde ich ihn koloſſal lieb haben.“ Er wünjcte mithin die Bilder von Corot ſich zu Gefallen; aus Corots Schilderung einer Morgenftunde wollte er vielleicht eine Stunde am heißen Mittag machen;

frafterfüllte Bänerinnen wollte er vielleicht dort im Schatten ausruhen laflen, _

wo bei Eorot unter lichten Stämmen mit wenigem Laub fich ſchlanke Nymphen bewegten. Wo blieb dann Corot? Zola ſprach zu ihm: Sei ich, ſei nicht Du. Er fagte zu Corot: Ich will eigentlich, daß alle Künftler nad) ihrem Temperament felig werden, Du hingegen ſollſt nicht felig werden, denn Du haft feine puissance.

Er fagte fi nicht, daß „puissance* nur eine Abtheilung unter dem

Gattungen von Temperament ift und daß er Corot feine Art von Tempe⸗ rament entreißen würde, wenn er ihm feine puissance aufzwänge. Er fagte fich nicht, daß er Corot laſſen müffe, mas Corots fei. Er konnte es Corot nicht laſſen; er konnte fein Amt nicht aufs Konſtatiren einſchränken; fein eigened Temperament ging mit ihm durch umd Aberwältigte ihn; und es Tieß einen weiten Abitand entftehen zwifchen feinem Vorſatz, voransjegungs [08 zu fein, und der Möglichkeit, dem einfichtvoll gefaßten Entſchluß treu zu bleiben. Doch wir verftehen, daß Zola, fobald er als Kritifer fungirte, die Künftler ſah, wie Diefe nach feiner Definition die Natur fehen. Zola konnte fih, wenn er Kritiker wurde, nicht damit von feiner Künftlerfchaft befreien. Wenn nach Zolas Erklärung eine Sunftleiftung ein durch ein Temperament gefehener Winkel der Natur if, fo ift ung eine Eritifche Leiſtung von Zola ein duch ein Temperament gefehenes Kunftwerf. "Ein Kritiker fol ih freilich an das Kunſtwerk fchmiegen, mit dem er iich befaßt, wie das Waſſer an fein Ufer. Ein folder Krititer war Sainte- Beuve; ein. folder Kritiker ift Zola nicht. Er durfte nicht von fich denken: „Je dis ce qui est“; es lag ihm vielmehr ob, zu befürchten, daß, wie er den herrlichen Ausſpruch gethan Hat: „L’art ne vit que de fanatisme“, auch feine Kritit von den unlontrolirbaren Stürmen der Leidenjchaft ges fchüttelt würde.

vn

14 Die Zutunft.

So fehr Zola bei einem fremden Künftler durd fein 5 davon abgelentt wurde, ihn nur zu fpiegeln, eben fo fehr bef Leidenſchaft ihn, fobald er einem ihm verwandten Künftler g Ein folder Fall trat bei Courbet ein. Zola ſchreibt nicht, malte, er ift ein weit mächtigerer Geift und fieht viel beffer als vulgäre Künftler; jedoch ift in der Art, wie Courbet malte, etw Wefen Verwandtes. Bei der Schilderung diefes Malers erreich als ein Kritifer. Ein Kritiker fehreibt, weil fein Ziel if, Kla breiten. Bon einer nebenfächlichen Entgleifung abgefehen, war 3 Manetbeſprechung ein folcher Kritiker geweſen; der Marfte, der ger der überzeugendfte, der meifterhaftefte der Kritifer: immerhin Sein Wefen wurde durch Manet nicht oder wenig berührt; Man als Zola, heiterer, ftädtifcher, großftädtifh. Manet drüdte eine infofern er mit edigen, nicht verbrauchten Kinien, mit einem Charme, mit Keidenfchaften wirkte, die die alten Kunftfreunde | war Manet eine. folhe Sammlernatur, daß ihn die Köftli Gemeingut gewordener Kunftarten, primitive Meifter und Japaı Dies Alles konnte Zola an Manet ſchildern; außerordentlich 1 er Manets Wefen und Malerei, als ein Kunſtler-Kritiler, de an Manet herantrat. Der föpferifche Künftler in ihm ger Wallung. Doch Courbet malte, wie Zola empfand. Courbei Zola ih ausbrüdte, „la nature saine et forte, une nature alfo malte er, wie Zola fah. Er malte nad) Zolas Meinung Manet, er war nach Zolas Anſicht „der einzige Maler der Epo fand Zola feinen Athem in dem von Courbet wieber; und fo fi ihm Seiten, die über die Manetkritit hinausreihen, wie dad Dichters über die felbit leuchtende Klarheit eines gelehrten Manne

Hätte in Zolas Jünglingsjahren Courbet ſich noch in Be Anfeindung befunden, fo daß, ftatt über Manet, Zola über ik ſitionelles Bud), „fein“ Buch, das Buch feiner Kampfreden gefd man barf vermuthen, daß diefe8 Courbetbuch noch fehöner geı als das Buch über Manet gerathen ift, denn Zolas Inſtinkt geh und nur fein Gerechtigleitgefuhl Manet. Zola würde über Einer gefprocen haben, der ſich felbft giebt, während er gege ein Darfteller war, der in freilich bemundernsmwerther Weife ı gab. Bon Courbet gebrauchte er den Ausdruch, er male „en ple en plein terreau“. Sein Wort von der zarten Richtiglei ift fein; das Wort „en pleine viande, en plein terreau“ ifi

Courbet malte voll, fonor. Er malte mit einer bäurifd Manet hatte eine zartere, fubtilere Konftitution als Zola.

Zola als Kunſtkritiker. 75

fagte Zola: „Unterfegt und Träftig, fühlte er das Verlangen, die Natur zwifchen die Arme zu preſſen.“ Zola fagte über Courbet feine Wahrheit und konnte zugleich über ihn dithyrambifch reden.

Bon dem injpirirten Ton der Courbetkritik Zolas läßt jih nun durch die Ueberfegung keine Borftellung geben. Den gefunden Klang. diefer Worte hat Zola vielleicht felbit nicht wiederzufinden geglaubt. Denn wir jehen, daf er die gleichen Worte, das erſte Dial bei der Erwähnung Courbets aus Anlaß des Buches von PBroudhon, das zweite Mal in den Salonberichten anmenbet. Nur der Schluß ift das erfte Mal breiter; er lautete: „Courbet ift der einzige Dialer unferer Zeit. Er gehört zu der Familie der Fleiſch— maler. Er hat zu Brüdern, er mag e8 wollen oder nicht, Paul Beronefe, Rembrandt und Tizian.“ Wie mit diefer Aneinanderreihung die Zeit, die Epoche um 1866, als diefe Eharakteriftif verfaßt wurde, entgegentritt! Wie bezeichnend e3 ift, daß Paul Beronefe mit erwähnt ift; 1900 hätte ihn Zola in fo illuſtrer Gefellfchaft. gewiß nicht genannt; im jener oberflächlicheren Zeit galt er viel. Selbft Tizian hätte er nicht mitgenannt. Für den Be: griff, den er auszudrfiden wunſchte, hätte er Rembrandt genannt, allenfalls Rubens und Rembrandt. Doch wie entfernt wir jest auch von der Werth- ſchätzung Courbets jind, die damals dem großen Schriftfteller vorgefchwebt hat, jo Hindert uns nichts, die Schönheit feiner Würdigung zu erkennen.

Er fchrieb über Courbet: „Mein Courbet, der mir gehört, ift eine Perfönlichkeit. Der Maler hat damit angefangen, die Vlamen und gewiſſe Meifter der Nenaiffance nachzuahmen. Aber feine Natur empörte fih, er fühlte fih durch all fein Fleiſch durch all fein Fleisch, verfteht Ihr mid? zu der gegenftändlichen Welt Hingezogen, die ihn umgab, zu den faftigen Frauen, zu den kräftigen Männern, zu den reichliche Frucht tragenden Feldern. Ich habe vor diefen ſchweren ftarken Bildern, die man als gräßlich bezeichnet hatte, nicht den Heinften Grund zu lachen gefunden. Das Fleifch, feft und ſchmiegſam, lebte mächtig, der Hintergrund füllte ſich mit Luft. Die Richtig- feit der Töne und die Breite der Behandlung ftellte die Diftanzen her... Indem ich die Augen fchliege, fehe ich diefe Bilder wieder vor mir, die aus einer Maſſe find, real bis zur Wahrheit... .*

Wie Das Herrlich und mit erftaunlichem Relief gefagt ift, wie Das Courbet ift und in höherem Maße Zola jelbft! Welch ein Frohloden ift es für den Kunſtfreund, einer Darftellung zu begegnen, die ein fo vollkommenes Bild gewährt! Der Leſer wird von der Klaſſizität einer folhen Schilderung durhdrungen. Zola wird dort in feinen Kritifen, wo er Themen anfchlägt, die fich mit feiner Perfönlichleit berühren, unfterblich fein.

Herman Helferid. >

u... ln te nt Tl

ME u

76 Die Zutunft.

Das Seufzen der Steine.*)

Ve Mineralſammlung iſt nach den für einfach angeſehenen Stoffen ge orbnet, aber in der Natur giebt es nicht einen einzigen einfaden Stoff; nicht einmal gediegenes Gold ift rein, denn fein Gehalt wird auf höchſtens 98 Prozent angegeben.

Wie find denn, fragt man, die Minerale beftimmt; nad welchen Pro portionen find fie zufammengejegt? Willkürlih, wird die Untwort fein, Denn weder das Berbindungsgewicdht noch das Atomgewicht find hier beftimmend, ob- wohl Beide hier und da hervorſchimmern, um fi an anderen Stellen vollftändig zu verbergen. Alſo was die Natur hervorbringt, ift nach anderen Geſetzen ge bildet, als der Chemiker im Laboratorium darjtellt.

Ein Beifpiel: Das Mineral Kobaltnidelties, in Beiden (Co Ni)® St, oder 8 Kobalt, 3 Nidel und 4 Schwefel, giebt bei metallurgifcher Behandlung bis zu 42 Prozent Nidel und bis zu 58 Prozent Kobalt. Nun ift allerdings das Atomgewicht des Kobalts 58, fo aber ift auch das des Nidels und dad giebt Nidel nur 42. Nah Dapy erijtirt nun eine Nidel- Schwefelverbindung, die 58 Nidel und 42 Schwefel enthält. Merken wir ung, wie die Zahl 42, bie im vorigen Fall als Nidel auftrat, jetzt als Schwefel auftritt. Aber ed eziftirt auch ein Arfenif-Nidel, dad 42 Prozent Nidel giebt. Diefes Spulen der Zahl 42 muß bejtimmt die Spur zur Zufammenjebung bes Kobalts und des Nickels geben können, denn bieje beiden Metalle von gleichen Atomgewicht werden von deutfchen Chemikern vom Fach nicht mehr für einfache angejehen, jeit e8 gelungen ift, Die Salze des einen Metalles in die des anderen umzuwandeln.

Aber aud) die Naturen des Schwefels und des Arjens könnten hierdurd) an den Tag kommen, denn fie begleiten oder verunreinigen beitänbig bie beiden Metalle; und Schwefel foll immer durch Arſenik verunreinigt fein, bis hinein

in die Schwefelfäure. Diefe Verunreinigungen, bie in der Chemie eine jo große und ftörende Rolle gefpielt haben, find nichts Anderes als Nachkommen, Ber- bindungen oder Kommunilationen und Die Gangart des Minerals iſt ihre Dlutter.

Damit babe ich das größte Problem der neuen Chemie berührt: das von den Metalltrangmutationen, das in die Goldmacherei ausmündet.

Es ift fein Geheimniß, daß bie neuere franzöfilche Chemie mit Berthelot an der Spige die Einfachheit der einfachen Stoffe leugnet und daß man fi über die Möglichkeit, Gold aus anderen Metallen bervorzubringen, günftig aus- ipridt. Und von Tiffereau erwartet man nächſtens die Goldbarre zu jehen, an der er oben auf Montparnafje gearbeitet hat. Er hatte anfangs der fünfzige Jahre die Goldgruben in Mexiko ftudirt, den allmählichen Uebergang der Ganga in Gold bemerkt und ift von da aus dem Naturprozeß auf die Spur gefomme: Im WUuguft 1854 legt er der parifer Akademie der Wiſſenſchaften eine au: gezeichnete Abhandlung über die zufammengefegte Natur der Metalle und übe ſeine Methoden, Gold zu machen, vor. Er bradte das Münzwerk dazu, da

——

*) S. Strindberg: Jardin des Plantes, „Zukunft“ vom 8. Dezeniber 190

Das Seufzen der Steine. 11

Gold zu analyfiren, das er durch Behandlung einer Kupfer- und einer Silber- Legirung mit Salpeterfänre in geringer Menge erhalten hatte. Das Münzwerk leugnete nicht, daß Gold da war, zauberte aber die ganze Sache mit der Formel „Verunreinigung“ fort. Tiffereau verfchwand, wurde eine Zeit lang für tot gehalten, lebt jeßt aber in Paris, ift interviewt worden und wird jo ernjt be- handelt, daß man merkt: er tjt der Dann, von dem man die Löſung des Pro- blems, Golb zu maden, erwartet, in vollem Ernſt!

Warum Tiffereau nicht in größerem Maßſtabe fortfuhr? Mit dem jelben Recht könnte man die Natur fragen, warum fie nicht Gold in größeren Mengen berftellt; dann verlöre es ja feinen Werth. Das hohe ſpezifiſche Gewicht des Goldes deutet auf einen Kondenfationgrad, der viel Arbeit erfordert, und barım wird es wohl auch dem Alchemiften fo theuer, Gold herzuitellen.

Paracelfus, der die meiften Gruben Europas (auch Schwedens) bejucht bat, Hatte wahrgenommen: wo eine Eifenader Quarz, Jaspis oder Zlintitein traf, war das Eiſen im Schnitt goldhaltig. Alfo Eifen und Stiefel erzeugte das Gold. Das ftimmt volllommen mit den Beobadhtungen, daß Gold hauptſächlich aus Quarz und Schwefeltiefen (Schwefeleifen oder Schwefelkupfer) gewonnen wird. Es giebt nämlich kaum einen durch Granit oder Gneiß rinnenden Zluß oder Bad, der nicht Goldjand führte; und der befteht meift aus eifenhaltigem Duarz. Und Pyrite, Schmwefeltiefe führen immer Gold. Die einzige Goldgrube Schwedens, Aedelfors, beſtand hauptfählih aus Schwefellies. Gewiſſe und recht viele Arten Steinkohlen find ja mit goldgelben Schuppen burchiprengt, die Schwefeleifen fein jelfen und es aud find. Uber auf dem Kohlenhof in Regen, Sorme, Schnee, Luft liegend, verändern fi) die meilten von diejen Schuppen nidt, was Schwefelfics thut. Darüber mwunderte ih mid; und als ich diefe Kieje mit Schmwefel- oder Salpeterfäure angriff, ergaben fie feinen Schwefelmaflerftoff. Dagegen löften fie fih fofort in Königswafler und ergaben eine Goldreaktion. Ste waren alfo vergoldet. Das Heißt: ein Theil des Schwefel- eifens hatte das Gold erzeugt. |

Wenn nun die Natur Schwefel und Eifen in Gold verwandelt: Fünnen wir der Natur nicht ihr Geheimniß abloden und es eben fo maden?

Die Natur und der